Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
einhergingen, soll Frau Brilon ein ausgesprochen vorsichtiger und alles in allem auch recht gut orientierter Mensch gewesen sein.« Er starrte seinen Aschenbecher an, der noch immer an der gewohnten Stelle neben dem Telefon stand, obwohl Hinnrichs die leidige Qualmerei bereits vor einigen Monaten aufgegeben hatte. Böse Zungen behaupteten, er habe es einfach nicht ertragen, dass ein Mann wie Lübke ihm, was das Thema Selbstbeherrschung anging, einen Schritt voraus war. »Egal, wie weit sie sich auch von der Residenz entfernte, sie fand immer aus eigener Kraft wieder heim. Und wann immer sie nachts herumgeisterte – was wohl nicht selten vorkam –, kehrte sie anschließend unbeschadet wieder in ihr Zimmer zurück.«
»Nur nicht gestern Nacht«, resümierte Verhoeven.
»So ist es«, nickte Hinnrichs. »Offiziell wird es keine Ermittlung geben, aber natürlich ist in Fällen wie diesem eine Autopsie Pflicht.« Sein Finger fuhr über das Schriftstück, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Die toxikologischen Ergebnisse stehen noch aus, aber ich kann Ihnen bereits jetzt verraten, dass es rein körperlich keinerlei Hinweise auf ein Einwirken Dritter gibt.«
»Sie hatte also keine Abwehrverletzungen?«, hakte Winnie nach.
»Nein, nichts.«
»Sollte man dann nicht wirklich erst mal von einem tragischen Unglück ausgehen?«, fragte Verhoeven.
»Natürlich.« Hinnrichs lächelte suffisant. »Und normalerweise würde ich auch genau das tun. Aber nachdem gewisse in diesem Raum befindliche Personen mich mit ihren kruden Theorien infiziert zu haben scheinen, war ich in diesem besonderen Fall leider nicht in der Lage, die Sache so einfach ad acta zu legen.« Er bückte sich und hob einen Stapel Ordner vom Boden auf. »Also habe ich mir sämtliche Todesfälle der beiden letzten Jahre vorgenommen.«
»Und sind Sie fündig geworden?«, fragte Verhoeven interessiert.
»Ich bin nicht sicher«, entgegnete Hinnrichs. »Zwei Fälle scheinen mir zumindest fragwürdig zu sein.«
Winnie sah ihn an. »Sie glauben, dass in dieser Residenz ein Mörder umgeht?«
»Ich persönlich glaube gar nichts.« Hinnrichs wieselte um den Schreibtisch herum und rammte den Ordnerberg vor Verhoeven auf den Tisch. »Aber Ihr Partner wird sich in aller Ruhe da durcharbeiten und sehen, ob er weitere Hinweise auf Unregelmäßigkeiten findet, während Sie …« Sein Zeigefinger schnellte vor wie der Kopf einer Schlange, die sich ihr hilfloses Opfer packt. »… sich unter den Bewohnern von Tannengrund umhören und ganz nebenbei einen Blick in die Personalakten der Mitarbeiter werfen. Verstehen Sie zufällig was von Krankenpflege?«
Winnie Heller zögerte. Natürlich hatte sie die üblichen Notfallkurse absolviert. Und sie hatte eine Schwester gehabt, die sieben Jahre lang im Wachkoma gelegen hatte. Sie hatte gelernt, wie man eine PEG -Sonde spülte, eine Infusion wechselte, das Tempo des Tropfs regulierte und Verbände wechselte.
»Nicht allzu viel, fürchte ich.«
»Das dachte ich mir.« Hinnrichs kehrte an seinen Platz zurück. »Ich habe Sie denen dort als Praktikantin angedient, was bedeutet, dass Sie Betten machen, Frühstück austeilen und hier und da ein bisschen aufräumen. Kriegen Sie das hin?«
Winnie schenkte ihm ein reichlich säuerliches Lächeln. »Ich denke schon.«
Er nickte. »Die Direktorin ist natürlich eingeweiht, und wir können nur hoffen, dass sie dichthält.«
»Und wie lange soll ich …«
»So lange Sie brauchen, um ausschließen zu können, dass dort ein Todesengel am Werk ist.« Er schob zwei Kugelschreiber auf der Schreibunterlage hin und her, bis sie einen akkuraten rechten Winkel bildeten. »Oder bis Sie ausschließen können, dass Ackermann in Tannengrund war, um jemanden zu besuchen.«
Winnie sah ihn an. »Sie meinen, einen ehemaligen Kollegen?«
»Ich meine, irgendjemanden.« Er ließ die Stifte los und klatschte in die Hände wie ein übermütiges Kleinkind. »Melden Sie sich morgen früh um sechs in der Verwaltung, dann ist zumindest das Verwaltungspersonal noch nicht da. Irén Theunes erwartet Sie dort. Sie ist die Direktorin.«
Es lag Winnie auf der Zunge, ihn zu bitten, jemand anderen mit diesem Job zu betrauen, doch angesichts der grimmigen Entschlossenheit in Hinnrichs’ Augen entschied sie, lieber darauf zu verzichten.
Drei
August 1953
Das Steak ist verbrannt, aber es schmeckt trotzdem einfach nur göttlich. Genau wie all die anderen Dinge, die sie zum Teil nicht mal benennen kann. So sieht es
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