Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
nicht wenigstens »Viel Spaß« gewünscht hat.
Wütend nimmt sie ihre Jacke vom Haken neben der Tür und geht hinüber ins Nachbarhaus. Zu Annette. Wenigstens einem Menschen muss sie doch schließlich erzählen von ihrem Glück. Von der Einladung zum Grillfest.
Von Mario …
Sie verschluckt sich um ein Haar, als irgendwer von hinten gegen ihren Stuhl stößt. Aber das macht nichts. An diesem Tag kann ihr nichts die Laune verderben. Die Sonne steht jetzt noch tiefer und leuchtet ihr mit milder Röte fast waagerecht in die Augen. Wenn ich noch mehr esse, platze ich, denkt sie, selig vor Glück.
»Na, schmeckt’s?«
»Das kann man wohl sagen«, antwortet sie und hält lachend ihren Teller hoch, der schon fast wieder leer ist. Zugleich fällt ihr ein, was ihre Mutter ihr von klein auf eingeimpft hat: Wenn du auswärts isst, sei bescheiden. Ein zweites Mal nehmen? Auf keinen Fall! Nicht mal, wenn du vor lauter Hunger den Putz von den Wänden knabbern könntest …
»Fein, ich mag Frauen, die kräftig zulangen.«
Und wieder hat sie das Gefühl, dass er ihr geradewegs in die Seele geschaut hat. In ihre Gedanken. Etwas, das sie beeindruckt, das ihr andererseits aber auch höchst unangenehm ist.
Aber was hat er da eben gesagt?
Ich mag Frauen, die kräftig zulangen.
Frauen … Wow! Das klingt so …
»Möchtest du noch ein bisschen von dem Kartoffelsalat? Den hab ich selbst gemacht.«
Tja, da bleibt ihr wohl keine Wahl. Immerhin ist sie seine Schwester.
»Klar. Gern.«
Die Kleine strahlt. Und er gleich mit. Womit ganz nebenbei auch noch bewiesen wäre, dass er ein absoluter Familienmensch ist. Genau wie sie selbst …
Mein Gott, Becky, hör auf zu spinnen!,
manifestiert sich Annettes Stimme mitten in dem überwältigenden Glückstaumel, der sie bei diesen Gedanken erfüllt. Eine höchst unbequeme Dissonanz, die das Rosa ihrer Gefühle eintrübt wie ein düster-nasskalter Nebelschleier.
Doch sie schiebt die Warnung beiseite. Sie ist entschlossen, sich diesen besonderen Abend durch nichts und niemanden verderben zu lassen.
»Und wann geht’s los für dich?«, fragt sie und meint sein Studium.
»Im Oktober.« Das klingt nicht gerade begeistert.
Sie schiebt sich eine Gabel herrlich matschige Kartoffeln mit Mayonnaise in den Mund, als sich seine Miene plötzlich verdüstert.
»Was soll dieser Zirkus?«, fragt eine verschwommene Frauenstimme in ihrem Rücken.
Sie dreht sich um und sieht sich einem Traum von einem Kleid gegenüber. Organza und orangefarbene Seide. Dazu Schmuck in rauen Mengen. Alles Gelbgold. Oder macht das der Abendsonnenschein?
»Mario!«
»Ja?«
»Was sind das für Kinder in unserem Garten?«
Kinder!
»Freunde.«
Ein heiseres Lachen. »Freunde? Soso … Und von wem?«
»Von mir.«
Die Frau, der sie nie zuvor begegnet ist und die sie doch sofort zuordnen kann, lacht noch lauter. Als ob es völlig absurd sei, was ihr Sohn da sagt. »Na schön. Dann sei jetzt bitte so gut und wirf sie hinaus, ja?«
»Was?«
»Hast du nicht gehört?« Ihre Züge verraten trotz ihres beträchtlichen Alkoholpegels ausgeprägtes Selbstbewusstsein und einen eisernen Willen. Oder ist es schlicht Härte?
Hart wie Kruppstahl …
Ihr Blick sucht Mario, der ihr in dieser Situation so leidtut wie nichts und niemand zuvor, obwohl er eigentlich gar nicht so aussieht, als tangiere ihn das Ganze besonders. Er wirkt sogar eher … Sie überlegt. Ja, eher distanziert. Aber vielleicht muss er das sein bei so einer Mutter.
Und als hätte sie schon aufgrund ihrer eigenen Kälte einen besonderen Sensor für die Emotionen anderer Leute, sieht Nora Belting ihr in diesem Moment direkt in die Augen.
Als ob einen ein eisiger Windhauch streift, denkt sie und widersteht nur mit äußerster Mühe dem Wunsch, einen Schritt zurückzutreten.
»Wer ist die kleine Schlampe?«
»Ihr Name ist Rebecca.«
Als ob ich gar nicht vorhanden bin, denkt sie befremdet.
»Rebecca?« Das Wort bereitet Nora Belting sichtlich Probleme. Aber diese Tatsache dämpft nicht den Hass, der darin aufblitzt. Die Verachtung. Dass man mit einem einzigen Wort so viel sagen kann!
»Sie war in meiner Klasse.«
»Ach? Nennt man das jetzt so?«
Mario verzieht noch immer keine Miene. Er sieht einfach an seiner Mutter vorbei. Oder durch sie hindurch.
»Du bist genau wie dein Vater«, konstatiert Nora Belting mit einem abfälligen Lächeln, und alle Anwesenden verstehen sofort, dass das nicht als Kompliment gemeint ist.
Dann dreht sie sich auf dem Absatz um
Weitere Kostenlose Bücher