Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
wohl aus, denkt sie, ein Leben, in dem Geld keine Rolle spielt.
Zugleich fällt ihr ihre Mutter ein, die jeden Pfennig dreimal umdreht und von morgens um fünf bis abends um elf durch die Gegend rennt, um sich und ihre Kinder irgendwie über die Runden zu bringen.
Wenn Papa heimkommt,
lautet ihre Standardantwort auf die durchaus berechtigten Mahnungen ihrer Töchter,
dann soll er doch stolz sein können auf das, was wir in der Zwischenzeit erreicht haben …
»Das« sind zwei düstere Zimmer in der vierten Etage eines halbzerbombten Altbaus. Die »gute Stube« hat sogar einen Ofen. Und die älteste Tochter – außergewöhnlich genug in diesen Zeiten – bald ihr Abiturzeugnis in der Tasche.
Damit Papa stolz ist, wenn er heimkommt …
Sie schließt die Augen, froh, dass seine Einladung sie die Last dieser Verantwortung für ein paar Stunden vergessen lässt.
»Mario? Mario?«, hatte ihre Mutter vor wenigen Stunden gefragt. »Ist das nicht der Junge, der so gut Tennis spielt?«
Sie nickt. Stolz beinahe. Als ob sie irgendeinen Anteil hätte an dem, was er kann. »Ja, er spielt fast so gut wie ein Profi.«
Ihrer Mutter hingegen steht ebenso deutlich ins Gesicht geschrieben, was sie denkt. Dieses Land braucht keine Sportler. Dieses Land braucht Leute, die anpacken. Und mehr als alles andere braucht es Akademiker. Einer der Gründe, warum ihr schon aus Prinzip alles missfällt, was sich zwischen ihre Tochter und einen Universitätsabschluss stellen könnte.
Sie schiebt sich einen weiteren Bissen Fleisch in den Mund, butterzart mit sanftem Raucharoma.
Ihr Vater ist Geschichtsprofessor gewesen, bevor sie ihn im letzten Aufgebot doch noch an die Front geschickt haben. Ein exzellenter Kenner des alten Sparta, ein Historiker von Weltruf. Damals, vor dem Krieg, hatten ihre Eltern ein eigenes Haus. Einen Flügel im Salon. Und Debattierabende mit ebenso belesenen Freunden, einmal im Monat. Viele davon sind Juden gewesen. Die meisten Freunde sind inzwischen tot. Oder in Gefangenschaft. Wie ihr Vater, an den nur noch eine Handvoll Fotos und zwei versengte Bücher erinnern, die ihre Mutter aus den Trümmern ihres einstigen Zuhause gezogen hat und seither wie ihren Augapfel hütet. Fast mehr als ihre eigenen Töchter …
Weil das Land wieder Intellektuelle braucht. Denker.
Nicht diese brüllenden Deppen in ihren schlecht sitzenden Uniformen.
»Mario will so schnell wie möglich studieren«, sagt sie hastig.
Das immerhin bewirkt, dass ihre Mutter aufblickt. »So?«
Sie nickt. »Jura.«
»Und was machen die Eltern?«
Falsche Frage! Verdammt …
»Wie heißt dieser Mario denn überhaupt mit Nachnamen?«
»Belting.«
»Belting?« Stirnrunzeln. »Sind das etwa die mit den Waffen?«
Wie das wieder klingt! Total vorurteilsbeladen. Und himmelschreiend ungerecht obendrein. »Sie haben vielleicht im Krieg die eine oder andere …«
»Oh nein!« Die Hände ihrer Mutter flattern wild durch die Düsternis ihrer sogenannten guten Stube. Der Begriff »einzige Stube« träfe es eher. »Mit so einem gibst du dich nicht ab, hast du mich verstanden? Das sind genau die Leute, die dieses Land dorthin gebracht haben, wo es jetzt ist.«
»Er ist neunzehn, Mama! So alt wie ich …« Sie schluckt, weil ihr die Ungerechtigkeit ihrer Mutter buchstäblich den Atem nimmt. »Ihn trifft keine Schuld.«
»Aber diese Familie …«
»Was?«
Das Gesicht ihrer Mutter wird zu Stein. Sie hat schon einmal zu lange daran geglaubt, dass alles halb so schlimm wird. Das passiert ihr kein zweites Mal. »Man hört nichts Gutes über sie.«
»Seit wann schert dich, was die Leute sagen?«
Das nimmt ihr den Wind aus den Segeln. Sie möchte ein toleranter Mensch sein. Immer schon. Und nach diesen zwölf albtraumhaften Jahren mit Adolf und seinen Kohorten mehr denn je. Sie denkt kurz nach. Dann sieht sie auf die Uhr. Eigentlich sieht sie fast immer auf die Uhr. Weil sie immer irgendwohin muss. »Ich muss los.«
Eine der seltenen Gelegenheiten, wo sie froh ist darüber. »Ich weiß.«
»Wir reden später weiter.«
»Ja.«
Sie steht am Fenster, als ihre Mutter vier Stockwerke unter ihr aus dem Haus tritt. Das machen sie immer so. Seit sie wissen, wie schnell es gehen kann, dass man einander verloren hat. Wann immer einer von ihnen das Haus verlässt, steht der andere oben am Fenster und winkt.
Eigentlich schön, denkt sie und blickt den hastigen Schritten ihrer Mutter nach, bis sie endgültig außer Sicht ist. Erst dann fällt ihr auf, dass sie ihr
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