Schneetreiben
Tages gelegt hatte. Heute war es ihr unheimlich. Es schien ihr auch, als wirkten die Tiere nicht so entspannt und zufrieden wie sonst zu so später Stunde. Sie bemerkte, dass am Ende des langen Ganges die Tür zur Sattelkammer ein Stück offen stand und dort noch Licht brannte.
»Johannes, bist du noch da, hörst du mich?«, rief sie laut und ging auf die Tür zu. Ihre Schritte hallten auf dem Steinboden wider, und sie fröstelte. Hannas brauner Wallach schnaubte und schlug mit dem Huf gegen die Rückwand der Box, als sie ihn passierte. Er war sichtlich nervös, und Carla hatte fast den Eindruck, als wolle er ihr etwas mitteilen. Ihr Unbehagen wuchs.
»Ist ja gut, mein Dicker«, beruhigte sie das Pferd, während sie sich der Tür der Sattelkammer näherte. »Ich komme gleich noch einmal zu dir.« Sie wollte gerade nach der Klinke greifen, als ihr Blick auf den Boden fiel. Sie stutzte und verharrte einen Moment.
Ist das Blut? Carla starrte auf die eher schwarz als rötlich schimmernden feuchten Flecken auf dem Boden. Ohne zu zögern, riss sie die Tür auf. Sie begann zu zittern, und ihr wurde vor Angst ganz schwindelig. Ihre Hände tasteten in ihrer Jackentasche vergeblich nach ihrem Handy. Es liegt auf dem Küchentisch, fiel ihr ein. Was zum Teufel ist hier passiert?
Carla widerstand dem Impuls davonzurennen. Der ganze Fußboden war voller Blut. Ihr Blick glitt auf der Suchenach einer Erklärung über die Wand, wo die Trensen und Sättel ihrer Pferde unter messingfarbenen Schildern aufgereiht waren. Ein Sattel war von einem der an der Rückwand angebrachten Sattelböcke gefallen und lag halb gekippt auf dem Boden. Der langgezogene Lederriemen, an dem der Steigbügel befestigt war, war ebenso mit Blut befleckt wie die Satteldecke, deren helles Lammfell am Rand ein kleines Rinnsal aufgenommen haben musste. Carlas Herz klopfte, während sie zu begreifen versuchte, was sie sah. Ihr Blick blieb schließlich an einem Gegenstand hängen, der dort wie hingeworfen in der Ecke lag. Kein Zweifel, es handelte sich um Hansens Fahrtenmesser. Er benutzte es regelmäßig, um die Zuckerrüben zu schneiden und die eng gebundenen Schnüre der Heu- und Strohballen zu durchtrennen. Carla trat ein Stück an die dunkle Ecke heran, um besser sehen zu können. An der Spitze der Klinge klebte ebenfalls Blut, und auch dessen abgegriffener Lauf war befleckt. Und was war das? Carla schluckte, als sie das mit Blut befleckte Arbeitshemd des Stallmeisters entdeckte. Was hatte der Kommissar gesagt? Wieso sind Sie so sicher, dass Ihre Schwester Selbstmord begangen hat? Sind Sie sicher, dass dieser ehemalige Verwalter Keller keine Gefahr für Sie war? Wer wusste davon, dass Ihre Schwester und nicht Sie an dem Samstag in die Wohnung gefahren waren? Wer könnte Interesse haben, Ihnen etwas anzutun?
Carla fröstelte. Ihre Schwester war immer davon überzeugt gewesen, dass sie in Gefahr waren. Was, wenn sie recht gehabt hatte? Was, wenn jemand Hansen umgebracht hatte und jede Sekunde auch ihr etwas antun würde? Das erste Mal in ihrem Leben verspürte Carla Todesangst und konnte wirklich nachempfinden, wie ihre Schwester gelittenhaben musste. Eine weitere Frage schoss ihr durch den Kopf. Warum hatte sie nicht gespürt, dass Hanna an dem fraglichen Tag in Gefahr war? Vielleicht hatte sie sich zu Unrecht vorgeworfen, den Selbstmord ihrer Schwester nicht vorausgesehen zu haben, weil es ihn gar nicht gab? Vielleicht hatte sie sich gar nicht umbringen wollen. Erst jetzt, wo sie das Blut vor ihren Füßen sah, zog sie diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht. Was, wenn …? Carla kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Denn genau in diesem Moment fiel die Stalltür mit lautem Krachen ins Schloss, und mit schweren dumpfen Schritten, die auf dem Stallboden widerhallten, kam jemand direkt auf sie zu.
8
Anna faltete die Tageszeitung auf ihrem Schreibtisch wieder zusammen. Noch immer beschäftigte sich die Presse mit dem Lübecker Weihnachtstod und spekulierte darüber, ob die Frau, die dort vom Balkon gestürzt war, Opfer eines Verbrechens geworden war oder sich selbst getötet hatte.
Mal davon abgesehen, dass Bendt in dem Fall ermittelte, hätte Anna die Sache vermutlich nicht länger beschäftigt, wäre da nicht das vor ihr liegende Aktenstück gewesen, das ihr neben dem normalen Tagesgeschäft schon jetzt heftige Kopfschmerzen bereitete. Der Hauptbeschuldigte ihres Verfahrens hieß Dr. Teubert, gegen den als Partner der T&R Röntgenpraxis
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