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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gladow
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Trauer und Verzweiflung fast zu ersticken glaubte. Die Worte des Pastors drangen nur bruchstückhaft und wie aus weiter Ferne zu ihr vor. »Tragödie«, »Schicksalsschlag«, »viel zu früh!« und »Gottes Wille!« Mit Ausnahme des letzteren Ausspruchs hatte sie ihre Großmutter all diese Worte in den vergangenen Tagen tausendfach am Telefon zu Freunden und Verwandten sagen hören, die jetzt irgendwo hinter ihnen in einer der bis auf den letzten Platz besetzten Bänke saßen. Ihre Großmutter saß links neben ihr und schnäuzte sich immer wieder in ihr Taschentuch. Hanna, die zwischen ihr und ihrem Vater sitzen durfte, blickte wie versteinert zu einem der beiden Balkone hinauf, wo die Organistin saß und auf ihren nächsten Einsatz wartete. Das Licht der Sonne schien hell durch die weißen bleiverglasten Fenster in den Innenraum der Kapelle, und Carla fragte sich, warum es nicht regnete, wie an dem Tag der Beerdigung ihres Großvaters, wo der Himmel geweint und – wie ihre Großmutter damals sagte  – seiner Trauer angemessen Ausdruck verliehen hatte. Carla war sicher gewesen, dass es heute nicht nur regnen, sondern wie aus Eimern schütten und gewittern würde, aber nichts dergleichen war geschehen. Die Sonne schien genauso warm und hell vom Himmel wie auch schon an den vorangegangenen Tagen, was Carla nicht nur verwirrte, sondern was sie auch auf schmerzliche Weise als unangemessen empfand.
    Carla fragte sich, ob Hanna überhaupt realisierte, dass die Organistin im Moment gar nicht mehr spielte. Hanna weinte nicht, sondern saß einfach nur da, bewegte sich kaum, und obwohl es in dem eng besetzten Backsteingebäude brütend heiß war, fühlte sich ihre Hand kalt und irgendwie fremd an. Die Tatsache, dass Hanna genau wie sie mit ihren Gedankennicht bei der Predigt zu sein schien, beunruhigte Carla als solches nicht, wohl aber, dass Carla anders als sonst nicht empfinden konnte, was ihre Schwester dachte. An dem Tag, an dem ihre Mutter gestorben war, hatte sich auch etwas zwischen ihr und Hanna verändert. Solange sie sich erinnern konnte, gab es kein wichtiges Ereignis, das sie nicht mit Hanna gemeinsam erlebt und geteilt hatte. Seit jenem Tag allerdings gab es die Bilder des Unfalls, die Hanna in ihre Träume verfolgten und sie dann schweißgebadet und schreiend aus dem Schlaf aufschrecken ließen. Jedes Mal war Carla aus ihrem gegenüberliegenden Bett gesprungen, hatte sie umarmt und mit ihr geweint und versucht, sie zu überreden, ihr von dem schrecklichen Unfall und dem, was sie gesehen hatte, zu erzählen. Hanna tat es nicht, vielleicht auch, weil ihre Großmutter ihr gesagt hatte, dass es nicht gut sei, wenn sie ihre Schwester damit belaste und sie sich – um Carlas willen – lieber ihr oder dem Vater anvertrauen solle. Carla wusste, dass Hannas Entscheidung, sich ihr nicht zu offenbaren, falsch war. Es gab plötzlich ein Erlebnis, das eine Kluft zwischen ihnen schaffte, die es vorher nicht gegeben hatte. Sie fand sich in Hannas Gedankenwelt nicht mehr zurecht, weil sie dieses prägende Erlebnis nicht mit ihr teilte. Carla wünschte sich zurück in ihr Bett, wo sie die Decke über den Kopf ziehen und hemmungslos weinen oder, wenn sie es gar nicht mehr aushielt, sich für eine kleine Weile vormachen konnte, all das sei nur ein furchtbarer Traum gewesen. Aber das alles war kein Traum. Ihre Mutter war tot, und Hanna gab sich die Schuld daran. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Mutter noch am Leben wäre, hätte sie nicht immer wieder nach Eis verlangt und darum gebettelt, zum Kiosk zu gehen.
    Ihr Vater saß ganz still rechts neben Hanna. Er begann zuweinen, als eine Freundin ihrer Mutter aus dem Kirchenchor begann, das Ave Maria zu singen. Er blickte zu Carla herüber und sah sie an, als hoffe er, dass sie ihm die Antwort für Hannas Erstarrung geben könnte, aber sie vermochte es nicht.
    Die Wanduhr im Flur schlug inzwischen fünf Uhr nachmittags und riss Carla aus ihren Gedanken. Ob Johannes überhaupt noch da ist?, fragte sie sich, als ihr der Hund wieder einfiel. Sie eilte zur Haustür und rief draußen nach Smilla. Als sie nicht kam, lief sie auf die andere Seite des Hauses zur Veranda und öffnete die Schiebetür:
    »Smilla?«, rief sie in die Dunkelheit hinaus, aber die Hündin ließ sich nicht blicken. Dafür blies der Ostwind Carla unangenehm kalt entgegen, und sie fröstelte heftig, als sie die Tür wieder zuschob und schloss.
    Carla konnte es sich kaum vorstellen, dass Smilla bei

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