Schneetreiben
neben der Wut das gewohnte Begehren auf.
Susan schluckte. »Ich will dich ganz, Konrad«, flüsterte sie. Das erste Mal an diesem Abend glaubte sie, nicht mehr weinen zu müssen. Das Verlangen, das er nach ihr verspürte, verlieh ihr zumindest ein wenig Macht. Sie hatte vor, ihre Trümpfe auszuspielen.
Susan ignorierte den Kellner, der mit einem prall gefüllten Tablett neben sie trat und das Essen servierte, als sie unter dem Tisch fast unmerklich den Reißverschluss ihres Stiefels öffnete und diesen abstreifte. Dann fuhr sie mit dem Fuß ganz langsam an Konrads Bein hoch, bis sie oben zwischen seinen Schenkeln angekommen war.
Sie sah, dass er schluckte, und war sicher, dass er vermutlich aufgestöhnt hätte, wenn nicht gerade serviert worden wäre. Susan wartete, bis sich der Kellner wieder entfernt hatte, und begann sanft ihre Zehen zu bewegen. Trotz ihrer Aufregung versuchte sie ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen: »Was meinst du, was passiert, wenn deine Frau es nicht von dir, sondern von jemand anderem erfährt, dass es uns gibt. Was, wenn ich es ihr sage?«
14
Carla zog die Haustür hinter sich ins Schloss und verriegelte gewissenhaft die Tür. Sie verspürte noch keinen Hunger und entschied sich deshalb, erst nach oben zu gehen und sich ein Bad einlaufen zu lassen. Nun war auch noch Smilla weg, und sie war gänzlich allein. Als sie den oberen Treppenabsatz erreichte, stutzte sie. Die Zimmertür zum Schlafzimmer ihrer Schwester, das oben rechts vom Flur abging, stand sperrangelweit offen, und es brannte Licht.
Ach ja, die Putzfrau war da, fiel ihr ein. Sie hatte Felize am Morgen gebeten, hier oben sauberzumachen, und es war keineswegs untypisch für sie, dass sie am Tag Licht einschaltete, um ja kein Staubkorn zu übersehen. Vermutlich hatte sie es versehentlich brennen lassen, als sie gegangen war.
Bisher hatte Carla es meist vermieden, das Zimmer ihrer Schwester zu betreten, denn hier wurde sie regelmäßig von ihren Gefühlen übermannt. Deshalb war sie auch davon überzeugt, dass es vermutlich Monate dauern würde, bevor sie sich imstande sähe, Hannas Sachen auszusortieren. Vorerst brachte sie es nicht übers Herz, irgendetwas in Hannas Reich zu verändern. Sie wollte alles so belassen, wie es war, so, als ob Hanna noch da wäre und jederzeit nach Hause kommen könnte.
Carla warf nur einen flüchtigen Blick in den Raum und wollte den Lichtschalter neben dem Türrahmen betätigen, als ihr noch etwas auffiel. Eine der Schranktüren des weißen Einbauschrankes, der sich links an der Wand befand,stand einen Spalt breit offen, und auch auf Hannas Balkon brannte Licht. War Felize wirklich so dreist und hatte in Hannas Schrank gestöbert? Sie ging zum Schrank und drückte die Tür gegen die Magnetvorrichtung, ohne hineinzuschauen. Dann begab sie sich zur Balkontür hinüber und blickte auf die weißen Säulen des ovalen Geländers, von dem der Wind einige Flocken aufwirbelte und in die Nacht hinaustrug. Carla schaute dem Schauspiel einen Moment lang zu, und erst dann fiel ihr auf, dass etwas in der Mitte des überdachten Balkons auf dem Steinfußboden lag. Sie öffnete die Glastür. Der Wind blies ihr kalt um die Nase, als sie hinaustrat und die Balkontür hinter ihr zuschlug. Ungläubig stand sie mit verschränkten Armen zitternd da und starrte auf die leblose, schwarze Krähe vor ihren Füßen. Sie war nicht in der Lage, sich von dem verendeten Tier abzuwenden. Sie sah den bizarr verdrehten Kopf des Tieres, den geöffneten Schnabel und den gespreizten, gebrochenen Flügel und schluchzte laut auf. Heiße Tränen rannen ihr über das Gesicht, und ihr wurde schwindelig. Der Wind rauschte durch das aufgestellte nasse Gefieder der Krähe.
Carla schloss für einen Moment die Augen und hoffte, der Vogel möge aufstehen und davonfliegen. Der Gedanke, das verendete Tier die ganze Nacht hier draußen auf Hannas Balkon liegen zu lassen, schien ihr unerträglich. Zitternd ging sie deshalb in die Knie, umschloss den dürren, eiskalten Körper und hob ihn auf. Sie drohte in der Flut ihrer Gefühle zu ersticken, als sie mit dem Ellbogen die Tür aufdrückte, und obwohl ihre Augen vor Tränen schwammen, erkannte sie eines doch: Die Schranktür, die sie eben erst zugemacht hatte, stand wieder offen.
15
Anna saß Hauptkommissar Braun gegenüber an dessen Schreibtisch im Präsidium, als Bendt eintrat.
»Das ist ja mal eine Überraschung«, sagte der junge Kommissar sichtlich verdutzt. »Was machst du denn zu
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