Schneetreiben
gelangt sind. Wir haben aktuell neben den Telefonüberwachungen für die Anschlüsse von Röhrs und Teubert noch weitere Nummern geschaltet.«
»Na, dann wird’s bei dir ja immerhin auch nicht leichter«, bemerkte Bendt. »Glaubt ihr ernsthaft, dass eine Telefonüberwachung noch einen Sinn hat, nachdem bereits durchsucht wurde und Röhrs und Teubert wissen, dass gegen sie ermittelt wird?«
»Hoffen wir«, sagte Anna, kam aber nicht dazu, weiter auszuholen, denn ihre Küchenuhr läutete, um sie daran zu erinnern, den Truthahn zu begießen.
32
Auch wenn kein Weihnachtsbaum im Esszimmer stand, vermochte Carla nicht zu ignorieren, dass Heiligabend war. Sie hatte das Gefühl, im Haus zu ersticken. Immer wenn sie an der Ecke des Esszimmers vorbeiging, in der seit ihrer Kindheit jedes Jahr die geschmückte Tanne gestanden hatte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Solange sie denken konnte, hatte sie den Baum morgens gemeinsam mit Hanna geschmückt. Um vor ihren Gefühlen zu fliehen, hatte sie am frühen Nachmittag mit Konrad einen langen Ausritt unternommen. Wenn sie auf einem Pferderücken saß und durch den Wald oder über die schneebedeckten Felder galoppierte, gelang es ihr am ehesten, sich abzulenken. Das Schnauben der Pferde und der Klang der Hufe auf dem vereisten Boden beruhigten sie. Am liebsten wäre sie so lange durch die Natur geritten, bis sie vor Erschöpfung vom Pferd gefallen wäre, aber inzwischen war es draußen dunkel und für die Pferde zu gefährlich geworden.
Für eine Weile hatte sie mit Konrad vor dem Kamin gesessen und in das Feuer gestarrt, während er ihr Mut zugesprochen hatte, ihre Pläne umzusetzen und nach vorn zu schauen. Sie wollte eine Zeitlang allein sein und hatte sich deshalb unter dem Vorwand, noch einmal nach den Pferden zu sehen, aus dem Haus gestohlen. Sie hatte sich im Stall aufgehalten und die Pferde gestreichelt und war dann die Stiege des Heuschobers hinaufgeklettert, wo sie oft mit Hanna gesessen hatte. Jetzt saß sie bei den Katzen und hingihren Gedanken nach. Konrad hatte recht. Sie musste in allererster Linie die Angst davor abschütteln, selbst psychotisch zu werden. Aber genau das fiel ihr von Tag zu Tag schwerer.
Als ihre Schwester erkrankt war, hatte sie sich stets an den Glauben geklammert, dass die Ursache für Hannas Psychose in dem unzureichend verarbeiteten Kindheitserlebnis lag. Sie mied es, sich damit auseinanderzusetzen, dass aus fachärztlicher Sicht eine entsprechende Kausalität nicht zwingend war. Denn Psychosen wurden anders als Neurosen eher nicht durch traumatische Erlebnisse ausgelöst. Genau wie bei der Schizophrenie wusste man, dass auch Psychosen bei eineiigen Zwillingen mit einem extrem hohen Risiko früher oder später beide Geschwisterteile treffen konnten. Umwelteinflüsse konnten, mussten dabei aber keine wesentliche Rolle spielen.
Die Katzen miauten, als die Tür des Heuschobers aufgeschoben wurde. Carla ahnte sogleich, dass es Hansen war, der zu ihr hinaufstieg. Als sie einander am oberen Treppenabsatz erblickten, lächelten beide, und er kam wortlos hinauf und setzte sich zu ihr.
Carla fragte nicht danach, was er am Heiligabend auf dem Hof zu suchen hatte. Der Stallmeister lebte seit vielen Jahren allein und hatte zu seinen Kindern, die schon vor Jahren nach Süddeutschland gezogen waren, nur wenig Kontakt. Am 24. Dezember hatte er mittags stets mit ihnen im Gutshaus Gans gegessen und Heiligabend dann allein in seiner Wohnung verbracht. Sicher hatte ihm in diesem Jahr das übliche Ritual gefehlt, aber Carla hatte nicht die Kraft besessen, ohne Hanna an diesem Weihnachtsbrauch festzuhalten.
»Ich werde das Gut verkaufen, Johannes«, sagte Carla unvermittelt. »Ich kann nicht hierbleiben. Diese Umgebung macht mich auf Dauer krank.« Sie blickte in das müde und blass wirkende Gesicht ihres väterlichen Freundes. Er erwiderte nichts und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Carla fuhr fort: »Konrad möchte, dass wir in die Stadt ziehen und alles hier verkaufen. Ich fühle mich hier ohne Hanna nicht zu Hause. Wir werden drei oder vier Pferde behalten und irgendwo auf einem schönen Hof unterstellen. Du musst dir keine Sorgen machen. Solange es mich gibt und du arbeiten möchtest, bleibst du mein Stallmeister, auch wenn die Aufgaben kleiner werden.«
Carla bemerkte, wie Hansens Hände zu zittern begannen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er eine Longierleine über der Schulter trug, die er nun auf seinen Schoß zog und um die sich seine
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