Schneewittchen muss sterben
nicht abträglich zu sein, dass Bodenstein ihn um einen Kopf überragte und er zu ihm aufblicken musste.
»Das habe ich Tobias nicht übelgenommen. Er stand unter immensem Druck, wollte sich einfach mit allen Mitteln verteidigen. Und es war ja tatsächlich so, dass Laura mich damals zweimal in äußerst peinliche Situationen gebracht hat. Als Tochter unserer Haushälterin war sie häufig bei uns im Haus und bildete sich ein, in mich verliebt zu sein.«
»Was für Situationen waren das?«, fragte Bodenstein nach.
»Das eine Mal hatte sie sich in mein Bett gelegt, als ich gerade im Bad war«, erwiderte Terlinden mit sachlicher Stimme. »Das zweite Mal zog sie sich vor mir im Wohnzimmer nackt aus. Meine Frau war verreist, Laura wusste das. Sie sagte mir in aller Deutlichkeit, dass sie mit mir schlafen wollte.«
Aus unerfindlichen Gründen zerrten seine Worte an Pias Nerven. Sie vermied es, ihn anzusehen, und betrachtete stattdessen die Einrichtung des Büros. Der mächtige Schreibtisch aus Massivholz mit imposanten Schnitzereien an den Seiten ruhte auf vier riesigen Löwentatzen. Vermutlich war er sehr alt und wertvoll, aber Pia hatte selten etwas Hässlicheres gesehen. Neben dem Schreibtisch stand ein antiker Globus, und an den Wänden hingen düstere, expressionistische Gemälde in schlichten Goldrahmen, ähnlich denen, die sie vorhin über die Schulter von Frau Terlinden in deren Villa erspäht hatte.
»Und was passierte dann?«, erkundigte sich Bodenstein.
»Als ich sie zurückwies, brach sie in Tränen aus und rannte weg. Genau in diesem Moment kam mein Sohn herein.«
Pia räusperte sich. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle.
»Sie haben Amelie Fröhlich des Öfteren in Ihrem Auto mitgenommen«, sagte sie. »Das hat sie in ihrem Tagebuch geschrieben. Sie hatte den Eindruck, Sie würden regelrecht auf sie warten.«
»Gewartet habe ich nicht«, Claudius Terlinden lächelte, »aber ich habe sie ein paarmal mitgenommen, wenn sie mir auf dem Weg zur Bushaltestelle oder vom Dorf aus den Berg hoch zufällig begegnet ist.«
Er sprach ruhig und gelassen und machte nicht gerade den Eindruck, als habe er ein schlechtes Gewissen.
»Sie haben ihr den Kellnerjob im Schwarzen Ross besorgt. Warum?«
»Amelie wollte Geld verdienen, und der Wirt vom Schwarzen Ross suchte eine Kellnerin.« Er hob die Schultern. »Ich kenne hier im Dorf jeden, und wenn ich helfen kann, dann tue ich das gern.«
Pia betrachtete den Mann. Sein forschender Blick begegnete ihrem, und sie hielt ihm stand. Sie stellte Fragen, und er antwortete. Gleichzeitig lief zwischen ihnen etwas völlig anderes ab, aber was? Worin bestand diese eigentümliche Anziehung, die der Mann auf sie ausübte? Waren es seine dunklen Augen? Seine angenehme, sonore Stimme? Die Aura gelassener Selbstsicherheit, die von ihm ausging? Kein Wunder, dass er ein junges Mädchen wie Amelie beeindruckt hatte, wenn er sogar sie als erwachsene Frau in seinen Bann schlug.
»Wann haben Sie Amelie das letzte Mal gesehen?«, fragte nun wieder Bodenstein.
»Das weiß ich nicht genau.«
»Wissen Sie denn noch, wo Sie am vergangenen Samstagabend gewesen sind? Uns interessiert ganz konkret die Zeit zwischen 22 Uhr und 2 Uhr morgens.«
Claudius Terlinden nahm die Hände aus den Taschen und verschränkte die Arme vor der Brust. Über den Rücken seiner linken Hand zog sich ein blutiger Kratzer, der ziemlich frisch aussah.
»Ich war abends mit meiner Frau in Frankfurt essen«, erwiderte er nach kurzem Überlegen. »Weil Christine starke Kopfschmerzen hatte, habe ich sie zuerst zu Hause abgesetzt, dann bin ich hierhergefahren und habe den Schmuck in den Safe gelegt.«
»Wann sind Sie aus Frankfurt gekommen?«
»Gegen halb elf.«
»Also sind Sie zweimal am Schwarzen Ross vorbeigefahren«, bemerkte Pia.
»Ja.« Terlinden betrachtete sie mit der Konzentration eines Kandidaten bei einer Fernsehshow, wenn der Quizmaster die alles entscheidende Frage stellt, während er Bodensteins Fragen fast beiläufig beantwortet hatte. Diese Aufmerksamkeit irritierte Pia, und Bodenstein schien es ebenfalls zu bemerken.
»Und Ihnen ist dort nichts aufgefallen?«, fragte er. »Haben Sie irgendjemanden auf der Straße gesehen? Einen späten Spaziergänger vielleicht?«
»Nein, mir ist nichts aufgefallen«, antwortete Claudius Terlinden nachdenklich. »Aber ich fahre diese Strecke jeden Tag ein paarmal und achte nicht sonderlich auf die Umgebung.«
»Woher stammt der Kratzer da an Ihrer Hand?«,
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