Schneewittchen muss sterben
Frankfurt essen waren.«
Pia nickte nur. Die Begegnung mit Claudius Terlinden hatte ein zwiespältiges Gefühl in ihr hinterlassen. Normalerweise ließ sie sich nicht so schnell von jemandem blenden, aber der Mann hatte sie tief beeindruckt, und sie wollte ergründen, woran das lag.
Nur die Wache war noch besetzt, als Pia um halb zehn das Gebäude der RKI betrat. Der Schnee hatte sich in Höhe von Kelkheim wieder in Regen verwandelt, und Bodenstein hatte trotz seiner Kopfverletzung darauf bestanden, allein nach Hause zu fahren. Eigentlich hatte Pia auch für heute Schluss machen wollen, Christoph wartete sicher schon auf sie, aber die Begegnung mit Claudius Terlinden ließ ihr keine Ruhe. Und Christoph hatte Verständnis dafür, dass sie hin und wieder länger arbeiten musste.
Sie ging durch die menschenleeren Flure und Treppenhäuser bis zu ihrem Büro, schaltete das Licht ein und setzte sich an ihren Schreibtisch. Christine Terlinden hatte ihnen den Namen der Ärztin genannt, die Thies seit vielen Jahren behandelte. Es war keine Überraschung, dass es sich dabei um Frau Dr. Daniela Lauterbach handelte, immerhin war sie eine langjährige Nachbarin der Terlindens und konnte in Krisensituationen schnell vor Ort sein.
Sie tippte ihr Passwort in die Tastatur. Seitdem sie das Büro von Claudius Terlinden verlassen hatten, ging sie in Gedanken wieder und wieder das Gespräch durch, versuchte, sich jedes Wort, jede Formulierung, alle subtilen Andeutungen in Erinnerungen zu rufen. Wieso war Bodenstein so davon überzeugt, dass Terlinden in Amelies Verschwinden verstrickt war, sie hingegen überhaupt nicht? Hatte die Anziehung, die er auf sie ausgeübt hatte, ihre Objektivität getrübt?
Sie gab Terlindens Name bei einer Suchmaschine ein und landete Tausende von Treffern. In der nächsten halben Stunde erfuhr sie einiges über seine Firma und Familie, über Claudius Terlindens vielseitiges soziales und karitatives Engagement. Er war in zig Aufsichts- und Stiftungsräten verschiedener Verbände und Organisationen aktiv, hatte Stipendien für begabte junge Menschen aus sozial schwachen Familien vergeben. Terlinden tat viel für junge Leute. Warum? Sein offizielles Statement dazu lautete, dass er als ein vom Schicksal begünstigter Mensch der Gesellschaft etwas zurückgeben wolle. Ein durchaus edles Motiv, an dem nichts auszusetzen war. Aber steckte vielleicht noch etwas anderes dahinter? Er hatte behauptet, Laura Wagner zweimal abgewiesen zu haben, als sie ihm eindeutige Avancen gemacht hatte. Stimmte das? Pia klickte die Fotos an, die die Suchmaschine von ihm gefunden hatte, und betrachtete nachdenklich den Mann, der so heftige Gefühle in ihr ausgelöst hatte. Wusste seine Frau, dass ihr Mann auf junge Mädchen stand, und kleidete sich deshalb so übertrieben jugendlich? Hatte er Amelie etwas angetan, weil sie sich seinen Annäherungen widersetzt hatte? Pia kaute auf ihrer Unterlippe. Sie mochte das einfach nicht glauben. Schließlich loggte sie sich aus dem Internet aus und gab seinen Namen bei POLAS, dem Computer-Fahndungssystem, ein. Nichts. Er war nicht vorbestraft, nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Plötzlich fiel ihr Blick auf einen Link, der rechts unten eingeblendet war. Sie richtete sich auf. Am Sonntag, den 16. November 2008 hatte jemand um 1:15 Uhr Anzeige gegen Claudius Terlinden erstattet. Pia holte sich den Vorgang auf den Bildschirm. Ihr Herz begann zu klopfen, während sie las.
»Na, schau mal einer an«, murmelte sie.
Mittwoch, 19. November 2008
Der Wecker klingelte wie jeden Morgen pünktlich um 6:30 Uhr, aber heute brauchte er dieses Signal so wenig wie in den vergangenen Tagen. Gregor Lauterbach war längst wach. Die Angst vor Danielas Fragen hatte es ihm unmöglich gemacht, wieder einzuschlafen. Lauterbach richtete sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Er war nass geschwitzt, fühlte sich wie gerädert. Die Aussicht auf den vor ihm liegenden Tag mit zahllosen Terminen entmutigte ihn völlig. Wie sollte er sich konzentrieren, während in seinem Hinterkopf diese Bedrohung wie eine heimtückische Bombe tickte? Gestern war wieder ein anonymer Brief in der Büropost gewesen, der Inhalt noch beängstigender als der des ersten:
Ob deine Fingerabdrücke wohl noch an dem Wagenheber festzustellen sind, den du in die Jauchegrube geworfen hast? Die Polizei wird die Wahrheit herausfinden, und dann bist du
dran!
Wer kannte diese Details? Wer schrieb ihm diese Briefe? Und warum erst
Weitere Kostenlose Bücher