Schneewittchen muss sterben
fragte Pia.
Terlindens Gesicht verdunkelte sich. Er lächelte nicht mehr. »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Sohn.«
Thies – natürlich! Beinahe hätte Pia vergessen, was sie überhaupt hierher geführt hatte! Auch Bodenstein schien nicht mehr daran gedacht zu haben, bekam aber elegant die Kurve.
»Richtig«, sagte er. »Ihre Frau sagte uns eben, dass Ihr Sohn Thies gestern Abend eine Art Anfall erlitten hat.«
Claudius Terlinden zögerte kurz, dann nickte er.
»Um was für einen Anfall handelte es sich? Ist er Epileptiker?«
»Nein. Thies ist Autist. Er lebt in seiner eigenen Welt und empfindet jede Veränderung in seinem gewohnten Lebensumfeld als Bedrohung. Und darauf reagiert er mit autoaggressivem Verhalten.« Terlinden seufzte. »Ich fürchte, Amelies Verschwinden war der Auslöser für seinen Anfall.«
»Im Dorf geht das Gerücht um, Thies könne etwas damit zu tun haben«, sagte Pia.
»Das ist Unsinn«, widersprach Claudius Terlinden ohne jede Empörung, eher gleichgültig, als sei ihm dieses Gerede zur Genüge bekannt. »Thies mag das Mädchen ausgesprochen gern. Aber einige Leute im Dorf sind der Meinung, er gehöre in eine Anstalt. Natürlich sagen sie mir das nicht ins Gesicht, aber ich weiß es.«
»Wir würden gerne mit ihm sprechen.«
»Das ist im Augenblick leider nicht möglich.« Terlinden schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir mussten ihn in die Psychiatrie bringen lassen.«
»Was passiert dort mit ihm?« Pia hatte sofort grausige Bilder von Menschen im Kopf, die gefesselt und mit Stromstößen traktiert wurden.
»Man versucht, ihn zu beruhigen.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir mit ihm sprechen können?«
Claudius Terlinden hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Einen so schweren Anfall hatte Thies seit vielen Jahren nicht mehr. Ich fürchte, dass er durch dieses Ereignis in seiner Entwicklung wieder völlig zurückgeworfen wird. Das wäre eine Katastrophe. Für uns und für ihn.«
Er versprach, Bodenstein und Pia zu informieren, sobald die behandelnden Ärzte grünes Licht für ein Gespräch mit Thies gaben. Als er sie zum Aufzug begleitete und ihnen zum Abschied die Hand reichte, lächelte er wieder.
»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte er. Diesmal versetzte seine Berührung Pia keinen elektrischen Schlag, dennoch fühlte sie sich eigentümlich benommen, als sich endlich die Aufzugstür hinter ihnen schloss. Auf der Fahrt nach unten bemühte sie sich, ihrer Verwirrung Herr zu werden.
»Na, der ist aber auf dich abgefahren«, bemerkte Bodenstein. »Und du auch auf ihn.« In seiner Stimme schwang leiser Spott.
»Quatsch!«, widersprach Pia und zog den Reiß verschloss ihrer Jacke bis zum Kinn. »Ich habe nur versucht, ihn einzuschätzen.«
»Und? Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
»Ich glaube, er war aufrichtig.«
»Ach ja? Ich glaube das Gegenteil.«
»Wieso? Er hat, ohne zu zögern, alle Fragen beantwortet, auch die unangenehmen. Er hätte uns zum Beispiel nicht erzählen müssen, dass Laura ihn damals zweimal in eine peinliche Situation gebracht hatte.«
»Genau das halte ich für seinen Trick«, entgegnete Bodenstein. »Ist es nicht ein eigenartiger Zufall, dass Terlindens Sohn just in dem Augenblick, in dem das Mädchen verschwindet, aus der Schusslinie gebracht wird?«
Der Aufzug hielt im Erdgeschoss, die Türen gingen auf.
»Wir sind kein bisschen weitergekommen«, stellte Pia mit plötzlicher Ernüchterung fest. »Niemand will das Mädchen gesehen haben.«
»Vielleicht will es uns auch nur niemand sagen«, entgegnete Bodenstein. Sie durchquerten die Halle, nickten dem jungen Mann hinter dem Empfangstresen zu und traten hinaus ins Freie. Eisiger Wind pfiff ihnen entgegen. Pia drückte auf die Fernbedienung des Autoschlüssels, und die Türen des BMW entriegelten sich.
»Wir müssen noch einmal mit Frau Terlinden sprechen.« Bodenstein blieb an der Beifahrertür stehen und blickte Pia über das Autodach an.
»Du verdächtigst also Thies und seinen Vater.«
»Ist doch möglich. Thies hat dem Mädchen etwas angetan, sein Vater will es vertuschen und steckt seinen Sohn in die Psychiatrie.«
Sie stiegen ein, Pia ließ den Motor an und fuhr unter dem schützenden Vordach hervor. Sofort bedeckte Schnee die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer setzten sich dank feiner Sensoren in Bewegung.
»Ich will wissen, welcher Arzt Thies behandelt hat«, sagte Bodenstein nachdenklich. »Und ob die Terlindens am Samstagabend wirklich in
Weitere Kostenlose Bücher