Schneewittchen muss sterben
Marmorboden im Schachbrettmuster und düstere, gerahmte Ölgemälde an hohen, safrangelb tapezierten Wänden.
»Sie wissen ja sicher, dass die Tochter Ihrer Nachbarn seit Samstagabend vermisst wird«, begann Pia. »Die Suchhunde haben gestern immer wieder in der Nähe Ihres Hauses angeschlagen, und wir fragen uns, weshalb.«
»Kein Wunder. Amelie ist ja oft bei uns.« Frau Terlindens Stimme klang wie Vogelgezwitscher, ihr Blick wanderte von Pia zu Bodenstein und wieder zurück. »Sie ist mit unserem Sohn Thies befreundet.«
Mit einer unbewusst wirkenden Geste strich sie sich vorsichtig über den perfekt sitzenden Pagenkopf und schaute wieder kurz und ein wenig irritiert zu Bodenstein hinüber, der sich schweigend im Hintergrund hielt. Das Pflaster an seiner Stirn leuchtete hellweiß im dämmrigen Licht.
»Befreundet? Ist Amelie die Freundin Ihres Sohnes?«
»Nein, nein, das nicht. Sie verstehen sich nur gut, die beiden«, entgegnete Frau Terlinden zurückhaltend. »Das Mädchen hat keine Berührungsängste und lässt ihn nicht spüren, dass er … anders ist.«
Obwohl es Pia war, die das Gespräch führte, wanderten ihre Blicke immer wieder zu Bodenstein, als erhoffte sie Unterstützung von ihm. Pia kannte diesen Frauentypus, diese gekonnt einstudierte Mischung aus weiblicher Hilflosigkeit und Koketterie, die in beinahe jedem Mann den Beschützerinstinkt weckte. Die wenigsten Frauen waren tatsächlich so, die meisten hatten diese Rolle im Laufe der Zeit als wirkungsvolle Manipulationsmethode für sich entdeckt.
»Wir würden gerne mit Ihrem Sohn sprechen«, sagte sie. »Vielleicht kann er uns etwas über Amelie erzählen.«
»Das geht leider nicht.« Christine Terlinden zupfte am Pelzkragen ihrer Weste, strich wieder über ihren blonden Helm. »Thies geht es nicht gut. Er hatte gestern einen Anfall, wir mussten die Ärztin rufen.«
»Was für einen Anfall?«, hakte Pia nach. Sollte Frau Terlinden gehofft haben, die Polizei würde sich mit vagen Andeutungen zufriedengeben, so sah sie sich jetzt im Irrtum. Pias Frage schien sie unangenehm zu berühren.
»Nun ja. Thies ist sehr labil. Schon kleine Veränderungen in seinem Lebensumfeld können ihn mitunter völlig aus der Bahn werfen.«
Das klang, als habe sie das auswendig gelernt. Der Mangel jeglicher Empathie in ihren Worten war bemerkenswert. Offensichtlich interessierte es Frau Terlinden nur wenig, was mit dem Nachbarmädchen geschehen war. Sie hatte nicht einmal aus Höflichkeit nachgefragt. Das war seltsam. Pia erinnerte sich an die Mutmaßungen der Frauen im Dorfladen, die es durchaus für möglich hielten, dass Thies dem Mädchen etwas angetan haben könnte, wenn er nachts durch die Straßen schlich.
»Was macht Ihr Sohn den ganzen Tag?«, wollte Pia wissen. »Geht er arbeiten?«
»Nein. Fremde Menschen überfordern ihn«, antwortete Christine Terlinden. »Er kümmert sich um unseren Garten und um die Gärten von einigen Nachbarn. Er ist ein sehr guter Gärtner.«
Unwillkürlich fiel Pia das alte Lied von Reinhard Mey ein, das dieser als Parodie auf die Edgar-Wallace-Filme aus den 6oer Jahren geschrieben hatte.
Der Mörder ist immer der Gärtner.
War es so einfach? Wussten die Terlindens mehr und versteckten ihren behinderten Sohn, um ihn zu schützen?
Der Regen war endgültig in Schnee übergegangen. Ein feiner, weißer Belag hatte sich auf dem Asphalt der Straße gebildet, und Pia hatte alle Mühe, den schweren BMW mit den Sommerreifen vor dem Tor des Firmengeländes von Terlinden zum Stehen zu bekommen.
»Du solltest mal die Reifen wechseln lassen«, sagte sie zu ihrem Chef. »Winterreifen von O bis O.«
»Was?« Bodenstein runzelte irritiert die Stirn. Er war in Gedanken irgendwo, aber ganz sicher nicht bei ihrem Fall. Sein Handy summte.
»Hallo, Frau Dr. Engel …«, meldete er sich nach einem Blick aufs Display.
»Oktober bis Ostern«, murmelte Pia, ließ die Scheibe herunter und zeigte dem Portier ihre Kripomarke. »Herr Terlinden erwartet uns.«
Das stimmte zwar nicht ganz, aber der Mann nickte nur, strebte zurück in sein warmes Häuschen und fuhr die Schranke hoch. Pia gab vorsichtig Gas, um nicht ins Rutschen zu geraten, und steuerte das Auto über leere Parkplätze vor die gläserne Front des Hauptgebäudes. Direkt vor der Eingangstür stand ein schwarzer S-Klasse-Mercedes. Pia hielt dahinter und stieg aus. Konnte Bodenstein sein Gespräch mit der Engel nicht abkürzen? Ihre Füße waren Eisklumpen, die kurze Fahrt durch
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