Schneewittchen muss sterben
verschränkten Hände gelegt, ließ sämtliche Alarmglocken in seinem Gehirn schrillen. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, lachte über irgendetwas, was dieser Kerl gesagt hatte, und legte dann auch noch ihre Hand auf seine. Bodenstein stand wie erstarrt mitten in dem Trubel, das Servicepersonal rannte geschäftig an ihm vorbei, als sei er unsichtbar. Am Morgen hatte Cosima ihm noch beiläufig erzählt, dass sie den ganzen Tag wieder im Schneideraum in Mainz zu tun habe. Hatte sich kurzfristig etwas an ihren Plänen geändert, oder hatte sie ihn wieder bewusst angelogen? Wie konnte sie auch ahnen, dass ihn seine Ermittlungen just an diesem Mittag in genau dieses eine von den vielen tausend Frankfurter Restaurants führen würden?
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine junge, mollige Frau blieb vor ihm stehen und lächelte ein wenig ungeduldig. Sein Herz setzte mit der Gewalt eines Schmiedehammers wieder ein. Er zitterte am ganzen Körper, und ihm war speiübel.
»Nein«, antwortete er, ohne seine Augen von Cosima und ihrem Begleiter abzuwenden. Die Bedienstete warf ihm einen eigentümlichen Blick zu, aber es war ihm völlig gleichgültig, was sie von ihm denken mochte. Keine zwanzig Meter von ihm entfernt saß seine Frau mit dem Mann, auf dessen Gesellschaft sie sich mit drei Ausrufezeichen freute. Bodenstein konzentrierte sich angestrengt darauf, ein- und auszuatmen. Er wünschte, er wäre fähig, einfach an diesen Tisch zu gehen und dem Mann ohne Vorwarnung in die Visage zu schlagen. Aber weil er zu eiserner Selbstbeherrschung und höflichen Manieren erzogen war, blieb er einfach stehen und tat nichts. Ganz automatisch konstatierte der scharfe Beobachter in ihm die offensichtliche Vertrautheit der beiden, die nun ihre Köpfe zusammensteckten und tiefe Blicke tauschten. Bodenstein sah aus dem Augenwinkel, wie die junge Dame vom Service den Empfangschef, der inzwischen seinen Promi irgendwo adäquat untergebracht hatte, auf ihn aufmerksam machte. Entweder musste er jetzt zu Cosima und diesem Kerl hingehen oder auf der Stelle verschwinden. Da er sich nicht in der Lage fühlte, den arglos Erfreuten zu spielen, entschied er sich für Letzteres, wandte sich auf dem Absatz um und verließ das überfüllte Restaurant. Als er aus der Tür trat, starrte er einen Moment den Bauzaun auf der gegenüberliegenden Straßenseite an, bevor er wie betäubt die Guiolettstraße entlangging. Sein Puls raste, er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Der Anblick von Cosima und diesem Kerl hatte sich unauslöschlich in seine Netzhaut eingebrannt. Nun war genau das eingetreten, wovor er sich so sehr gefürchtet hatte: Er hatte die Gewissheit, dass Cosima ihn betrog.
Plötzlich trat ihm jemand in den Weg. Er wollte ausweichen, aber die Frau mit dem Regenschirm machte ebenfalls einen Schritt zur Seite, so dass er stehen bleiben musste.
»Bist du schon fertig?« Die Stimme von Pia Kirchhoff durchdrang den Nebel, der ihn wie eine Wand umgab, und holte ihn schlagartig zurück in die Realität. »War Terlinden am Samstag dort?«
Terlinden! Den hatte er völlig vergessen.
»Ich … ich habe gar nicht gefragt«, gab er zu.
»Ist alles in Ordnung?« Pia sah ihn prüfend an. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Cosima sitzt da drin«, erwiderte er tonlos. »Mit einem anderen Mann. Obwohl sie mir heute Morgen gesagt hat …«
Er konnte nicht weitersprechen, seine Kehle war wie ausgetrocknet. Auf weichen Beinen wankte er zum nächsten Haus und setzte sich ungeachtet der Nässe auf eine Treppenstufe im Hauseingang. Pia betrachtete ihn stumm und, wie ihm schien, mitleidig. Er senkte den Blick.
»Gib mir eine Zigarette«, verlangte er mit heiserer Stimme. Pia kramte in den Taschen ihrer Jacke und reichte ihm wortlos ein Päckchen samt Feuerzeug. Er hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr geraucht und nichts vermisst, aber jetzt musste er feststellen, dass die Gier nach Nikotin noch immer in seinem tiefsten Innern schlummerte.
»Das Auto steht am Kettenhofweg, Ecke Brentanostraße.« Pia hielt ihm den Autoschlüssel hin. »Setz dich lieber rein, bevor du dir hier den Tod holst.«
Er nahm weder den Schlüssel noch gab er ihr eine Antwort.
Es war ihm völlig egal, ob er nass wurde oder die Passanten blöd glotzten. Ihm war alles egal. Obwohl er es insgeheim längst geahnt hatte, so hatte er doch verzweifelt auf eine harmlose Erklärung für Cosimas Lügen und SMS gehofft und war nicht im Geringsten darauf
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