Schneewittchen muss sterben
ging auf. Er fuhr hoch, als hätte man ihn mit kochendem Wasser Übergossen. Der freundliche Guten-Morgen-Gruß blieb Ines Schürmann-Liedtke bei seinem Anblick im Hals stecken.
»Geht es Ihnen nicht gut, Chef?«, fragte sie besorgt.
»Nein«, krächzte Lauterbach und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. »Ich glaube, mich hat die Grippe erwischt.«
»Soll ich Ihre Termine für heute absagen?«
»Ist etwas Wichtiges dabei?«
»Nein. Nichts wirklich Dringendes. Ich rufe Forthuber an, damit er Sie nach Hause fährt.«
»Ja, danke, Ines.« Lauterbach nickte und hustete ein bisschen. Sie ging hinaus. Er starrte die E-Mail an. Schneewittchen. Seine Gedanken rasten. Dann schloss er die Nachricht, blockierte mit einem Rechtsklick den Absender und schickte sie gleichzeitig als unzustellbar zurück.
Barbara Fröhlich saß am Küchentisch und versuchte vergeblich, sich auf ein Kreuzworträtsel zu konzentrieren. Nach drei Tagen und Nächten der Ungewissheit lagen ihre Nerven blank. Am Sonntag hatte sie die beiden Kleinen zu ihren Eltern nach Hofheim gebracht, und Arne war am Montag arbeiten gegangen, obwohl sein Chef ihm angeboten hatte, daheim zu bleiben. Aber was sollte er zu Hause ausrichten? Seitdem zogen sich die Tage unerträglich in die Länge. Amelie war und blieb verschwunden, es gab kein einziges Lebenszeichen. Ihre Mutter hatte dreimal aus Berlin angerufen, allerdings eher pflichtschuldig als besorgt. In den ersten beiden Tagen hatte sie noch Besuch von Frauen aus dem Dorf bekommen, die sie trösten und unterstützen wollten, aber da sie diese Frauen kaum kannte, hatten sie nur unbehaglich in der Küche gesessen, um Konversation bemüht. Gestern Abend war es auch noch zu einem heftigen Streit zwischen ihr und Arne gekommen, dem ersten überhaupt, seit sie sich kannten. Sie hatte ihm sein mangelndes Interesse am Schicksal seiner ältesten Tochter vorgeworfen und ihm voller Zorn sogar unterstellt, er sei wohl froh, wenn sie nicht mehr auftauchte. Genau genommen war es kein Streit gewesen, denn Arne hatte sie nur angesehen und geschwiegen. Wie immer.
»Die Polizei wird sie finden«, hatte er nur gesagt und war ins Badezimmer verschwunden. Sie war in der Küche zurückgeblieben, hilflos, sprachlos und allein. Und ganz plötzlich hatte sie ihren Ehemann mit anderen Augen gesehen. Feige flüchtete er in seine tägliche Routine. Würde er sich anders verhalten, wenn nicht Amelie, sondern Tim oder Jana verschwunden wären? Seine einzige Angst war die, dass er unangenehm auffallen könnte. Kein Wort hatten sie mehr miteinander gewechselt, stumm nebeneinander im Bett gelegen. Zehn Minuten später hatte er schon geschnarcht, ruhig und gleichmäßig, als ob alles in bester Ordnung sei. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so verlassen gefühlt wie in dieser schrecklichen, endlosen Nacht.
Es klingelte an der Tür. Barbara Fröhlich zuckte zusammen und stand auf. Hoffentlich war es nicht wieder eine dieser Dorffrauen, die nur deshalb mit vorgetäuschtem Mitgefühl bei ihr ausharrten, um später im Laden einen Exklusivbericht der Lage abliefern zu können. Sie öffnete die Haustür. Vor ihr stand eine Unbekannte.
»Guten Tag, Frau Fröhlich«, sagte die Frau. Sie hatte dunkles, kurzes Haar, ein blasses, ernstes Gesicht mit bläulichen Augenringen und trug eine viereckige Brille. »Kriminaloberkommissarin Maren König vom K11 in Hofheim.«
Sie präsentierte ihre Kripomarke. »Darf ich hereinkommen?«
»Ja, natürlich. Bitte.« Barbara Fröhlichs Herz klopfte ängstlich. Die Frau sah so ernst aus, als würde sie schlechte Nachrichten bringen. »Haben Sie etwas von Amelie gehört?«
»Nein, leider nicht. Aber meine Kollegen haben herausgefunden, dass Amelie von ihrem Freund Thies Bilder bekommen haben soll. In ihrem Zimmer wurde aber nichts gefunden.«
»Ich weiß auch nichts von irgendwelchen Bildern.« Sie schüttelte ratlos den Kopf, enttäuscht, dass die Polizistin ihr nichts Neues mitteilen konnte.
»Vielleicht könnten wir noch einmal in Amelies Zimmer schauen«, schlug Maren König vor. »Die Bilder, sollten sie tatsächlich existieren, könnten ausgesprochen wichtig sein.«
»Ja, natürlich. Kommen Sie.«
Barbara Fröhlich führte sie die Treppe hoch und öffnete die Tür zu Amelies Zimmer. Sie blieb im Türrahmen stehen und sah zu, wie die Kommissarin gründlich in den Wandschränken suchte, auf die Knie ging, unter dem Bett und unter dem Schreibtisch nachschaute. Schließlich rückte sie die
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