Schneewittchen muss sterben
zum Handeln gezwungen?
»Gehen wir wieder rein.« Bodenstein warf den Becher in den Mülleimer. »Damit kriegen wir ihn.«
Das Wasser stieg. Zentimeter um Zentimeter. Im letzten Licht des Tages hatte Amelie gesehen, dass es bis zur dritten Stufe stand. Ihr Versuch, das Wasser mit einer dicken Wolldecke am Eindringen zu hindern, war nur so lange von Erfolg gekrönt gewesen, bis der Wasserdruck die Decke weggespült hatte. Nun war es stockdunkel, aber sie hörte das unverminderte Rauschen in den Leitungen. Vergeblich versuchte sie auszurechnen, wann das Wasser das oberste Brett des Regals erreicht haben würde. Thies lag dicht neben ihr, sie konnte spüren, wie sich seine Brust hob und senkte. Hin und wieder hustete er keuchend. Seine Haut war fiebrig heiß, die kalte Feuchtigkeit in diesem Loch würde ihm den Rest geben. Amelie erinnerte sich daran, dass er neulich schon krank ausgesehen hatte. Wie würde er das alles hier überstehen? Thies war so sensibel! Ein paarmal hatte sie versucht, mit ihm zu reden, aber er hatte ihr keine Antwort gegeben.
»Thies«, flüsterte sie. Es fiel ihr schwer, denn ihre Zähne klapperten so stark, dass sie kaum den Mund öffnen konnte. »Thies, sag doch was!«
Nichts. Und da verließ sie endgültig der Mut. Ihre eiserne Selbstbeherrschung, die sie in den letzten Tagen und Nächten davor bewahrt hatte, in der Dunkelheit durchzudrehen, war dahin. Sie brach in Tränen aus. Es gab keine Hoffnung mehr. Sie würde hier drin sterben, jämmerlich ertrinken! Schneewittchen war auch nie gefunden worden. Weshalb sollte sie mehr Glück haben? Die Angst überwältigte sie. Plötzlich zuckte sie zusammen. Sie spürte eine Berührung an ihrem Rücken. Thies legte einen Arm um sie, schlang sein Bein um ihres und zog sie dicht an sich. Die Hitze, die sein Körper ausstrahlte, wärmte sie.
»Nicht weinen, Amelie«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Nicht weinen. Ich bin doch da.«
» Wie haben Sie von der Existenz dieser Bilder erfahren?«
Bodenstein hielt sich nicht mit einer langen Vorrede auf. Mit sicherem Blick vermochte er den Zustand von Gregor Lauterbach einzuschätzen. Der Herr Minister war kein sonderlich starker Mann, und der Druck machte ihm zu schaffen. Nach den zermürbenden Ereignissen der letzten Tage würde er nicht mehr lange standhalten.
»Ich habe anonyme Briefe und E-Mails bekommen«, erwiderte Lauterbach und brachte seinen Anwalt mit einer kraftlosen Handbewegung zum Verstummen, als dieser Protest einlegen wollte. »Ich hatte an dem Abend in der Scheune meinen Schlüsselbund verloren, und bei einem der Briefe war ein Foto des Schlüsselbundes dabei. Da wurde mir klar, dass jemand Stefanie und mich beobachtet hatte.«
»Wobei beobachtet?«
»Sie wissen es doch.« Lauterbach blickte auf, und Bodenstein las in seinen Augen nichts als Selbstmitleid. »Stefanie hat mich provoziert, schon die ganze Zeit. Ich … ich wollte nicht mit ihr … schlafen, aber sie hat mich so massiv bedrängt, bis ich … einfach nicht mehr anders konnte.«
Bodenstein wartete stumm, bis Lauterbach mit weinerlicher Stimme weitersprach.
»Als ich … als ich gemerkt habe, dass ich meinen Schlüsselbund verloren hatte, wollte ich ihn suchen. Meine Frau hätte mir den Kopf abgerissen, an dem Bund hingen auch die Schlüssel von ihrer Praxis!«
Er blickte auf, Verständnis heischend. Bodenstein musste sich anstrengen, um seine aufsteigende Verachtung hinter einer ausdruckslosen Miene zu verbergen.
»Stefanie sagte, ich solle lieber verschwinden. Sie würde den Schlüsselbund suchen und ihn mir später bringen.«
»Und das taten Sie dann auch?«
»Ja. Ich bin nach Hause gegangen.«
Bodenstein ließ es für den Moment dabei bewenden.
»Sie bekamen also Briefe und E-Mails«, sagte er. »Was stand da drin?«
»Dass Thies alles wüsste. Und dass die Polizei nichts erfahren würde, wenn ich weiterhin den Mund hielte.«
»Worüber sollten Sie denn den Mund halten?«
Lauterbach hob die Schultern und schüttelte den Kopf.
»Wer, denken Sie, hat Ihnen diese Briefe geschrieben?«
Wieder ein ratloses Schulterzucken.
»Sie müssen doch irgendeinen Verdacht haben! Herr Lauterbach!« Bodenstein beugte sich wieder vor. »Schweigen ist jetzt wirklich die schlechteste aller Lösungen!«
»Ich habe aber keine Ahnung!«, erwiderte Lauterbach in hilfloser Verzweiflung, die augenscheinlich nicht gespielt war. Auf sich allein gestellt und in die Enge getrieben, zeigte er sein wahres Wesen: Gregor Lauterbach war
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