Schneewittchen muss sterben
»Er hat doch gar nichts getan.«
»Wer denn dann?«
»Mein Mann ist an allem schuld.« Ihr Blick irrte hin und her, streifte Bodenstein kurz und wanderte dann wieder in die Ferne. »Der Jörg wollte das Mädchen ja wieder da rausholen, aber mein Mann hat gesagt, er soll das seinlassen, das war besser so. Er ist dann hingefahren, hat eine Platte über den Tank gelegt und Erde draufgeschüttet.«
»Wieso hat er das getan?«
»Damit endlich Ruhe ist. Die Laura hätte den Jungs das ganze Leben ruiniert, dabei ist ja eigentlich gar nichts passiert. Das war doch nur Spaß.«
Bodenstein traute seinen Ohren nicht.
»Dieses kleine Flittchen wollte ihre Freunde anzeigen, zur Polizei gehen. Dabei war sie selbst schuld daran. Sie hat die Jungs den ganzen Abend provoziert.« Übergangslos wechselte sie von der Vergangenheit in die Gegenwart. »Alles war in Ordnung, aber der Jörg, der musste ja unbedingt jedem erzählen, was damals los war! So ein Dummkopf!«
»Ihr Sohn hat eben ein Gewissen«, entgegnete Bodenstein kühl und erhob sich. Jegliches Mitgefühl für die Frau war in ihm erloschen. »Gar nichts war in Ordnung – im Gegenteil! Das, was Ihr Sohn getan hat, war kein Kavaliersdelikt. Vergewaltigung und Beihilfe zum Mord sind Kapitalverbrechen.«
»Pah!« Margot Richter machte eine verächtliche Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Keiner hat mehr über die alte Geschichte geredet«, sagte sie bitter. »Und dann kriegen sie Schiss, nur weil der Tobias wieder aufgetaucht ist. Dabei wäre gar nichts rausgekommen, wenn sie nur die Klappe gehalten hätten, diese … diese Weichlinge!«
Nadja von Bredow nickte nur gleichgültig, als Pia ihr mitteilte, dass ihr Alibi für den Samstagabend überprüft worden und in Ordnung sei.
»Sehr gut.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Dann kann ich jetzt ja wohl gehen.«
»Nein, noch nicht.« Pia schüttelte den Kopf. »Wir haben noch ein paar Fragen.«
»Na dann. Schießen Sie los.« Nadja sah Pia aus großen Augen gelangweilt an, als könne sie nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Sie wirkte nicht im mindesten nervös, und Pia konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie eine Rolle spielte. Wie mochte wohl die echte Nathalie sein, die sich hinter der schönen, makellosen Fassade der Kunstfigur Nadja von Bredow verbarg? Gab es sie überhaupt noch?
»Warum haben Sie Jörg Richter gebeten, Tobias am Abend zu sich einzuladen und dafür zu sorgen, dass er so lange wie möglich bei ihm bleibt?«
»Ich habe mich um Tobi gesorgt«, erwiderte Nadja glatt. »Er hat den Überfall in der Scheune nicht wirklich ernst genommen. Ich wollte ihn einfach in Sicherheit wissen.«
»Tatsächlich?« Pia schlug die Akte auf und suchte, bis sie Ostermanns Übersetzung aus Amelies Tagebuch gefunden hatte. »Wollen Sie hören, was Amelie in ihrer letzten Tagebucheintragung über Sie geschrieben hat?«
»Sie werden es wohl gleich vorlesen.« Nadja verdrehte die Augen und schlug die langen Beine übereinander.
»Stimmt.« Pia lächelte. »…
Wie diese Blondie sich vorhin auf Tobias gestürzt hat, fand ich schon komisch. Und wie die mich angeguckt hat! Total eifersüchtig, als ob sie mich am liebsten aufgefressen hätte. Thies hat voll die Panik gekriegt, als ich den Namen ›Nadja‹ erwähnt hab. Da stimmt doch was nicht mit der …«
Pia blickte auf.
»Es passte Ihnen nicht, dass Amelie so vertraut mit Tobias war«, sagte sie. »Sie haben Jörg Richter als Aufpasser benutzt und dann dafür gesorgt, dass Amelie verschwand.«
»Quatsch!« Das gleichgültige Lächeln war von Nadjas Gesicht verschwunden. Ihre Augen sprühten plötzlich zornige Funken. Pia erinnerte sich an die Bemerkung von Jörg Richter, Nadja habe schon als junges Mädchen etwas an sich gehabt, das anderen Menschen Angst einjagen konnte. Als rücksichtslos hatte er sie bezeichnet.
»Sie waren eifersüchtig.« Pia kannte den Inhalt von Amelies Tagebuch. »Vielleicht hat Tobias Ihnen ja erzählt, dass Amelie hin und wieder bei ihm war. Ich glaube, Sie hatten ganz einfach Angst, dass zwischen Tobias und Amelie etwas laufen könnte. Ganz ehrlich, Frau von Bredow, Amelie sieht Stefanie Schneeberger ziemlich ähnlich. Und Stefanie war seine große Liebe.«
Nadja von Bredow beugte sich etwas vor.
»Was wissen Sie schon von der großen Liebe?«, flüsterte sie mit dramatisch gesenkter Stimme und weit geöffneten Augen, als habe sie eine Regieanweisung bekommen. »Ich liebe Tobias, seitdem wir uns kennen. Zehn
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