Schneewittchen muss sterben
Fall wäre erledigt! Sie gab Gas. Die Straßen der Stadt waren um die frühe Uhrzeit an einem Sonntagmorgen wie leergefegt, sie benötigte für die Strecke quer durchs Gutleutviertel zum Hauptbahnhof und von dort aus Richtung Messe, für die sie an einem Wochentag eine halbe Stunde gebraucht hätte, kaum zehn Minuten. Im Radio lief ein Lied von Amy MacDonald, das Pia anfangs gefallen hatte; seit die Radiosender es jedoch rund um die Uhr bis zum Erbrechen spielten, ging es ihr auf die Nerven. Es war kurz vor acht, als sie auf der Gegenfahrbahn im heller werdenden Grau des Morgens die orangefarbenen Warnlichter des Abschleppwagens blinken sah, der gerade die Reste von Bodensteins BMW auflud. Sie wechselte am Westkreuz die Fahrtrichtung und hielt ein paar Minuten später vor dem Abschleppwagen und einem Streifenwagen. Bodenstein saß mit bleichem Gesicht auf der Leitplanke, die Ellbogen auf den Knien, und stierte ins Leere.
»Was ist passiert?«, fragte Pia einen der uniformierten Kollegen, nachdem sie sich ihm vorgestellt hatte, und beobachtete ihren Chef aus dem Augenwinkel.
»Ist angeblich einem Tier ausgewichen«, erwiderte der Beamte. »Das Auto ist Schrott, aber ihm ist wohl nichts passiert. Ins Krankenhaus will er auf jeden Fall nicht.«
»Ich kümmere mich um ihn. Vielen Dank.«
Sie wandte sich um. Der Abschleppwagen setzte sich in Bewegung, aber Bodenstein hob nicht einmal den Kopf.
»Hey.« Pia blieb vor ihm stehen. Was sollte sie zu ihm sagen? Nach Hause – wo auch immer das jetzt sein mochte – würde er wohl kaum wollen. Davon abgesehen durfte er jetzt nicht auch noch ausfallen. Bodenstein stieß einen tiefen Seufzer aus. Ein Ausdruck der Verlorenheit lag auf seinem Gesicht.
»Sie geht mit ihm vier Wochen auf Weltreise, gleich nach Weihnachten«, sagte er tonlos. »Ihre Arbeit ist ihr wichtiger als ich oder die Kinder. Sie hat schon im September den Vertrag unterschrieben.«
Pia zögerte. Eine blöde Floskel wie
Das wird schon wieder
oder
Kopf hoch
war hier völlig fehl am Platz. Er tat ihr aufrichtig leid, dennoch drängte die Zeit. Auf dem Kommissariat wartete nicht nur Nadja von Bredow, sondern jeder verfügbare Beamte der RKI.
»Komm, Oliver.« Obwohl sie ihn am liebsten am Arm gepackt und ins Auto gezerrt hätte, zwang sie sich zur Geduld. »Wir können hier nicht auf dem Seitenstreifen herumsitzen.«
Bodenstein schloss die Augen und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.
»Ich befasse mich jetzt seit 26 Jahren mit Mördern und Totschlägern«, sagte er mit heiserer Stimme. »Aber ich konnte mir nie richtig vorstellen, was einen Menschen dazu treibt, einen anderen umzubringen. Heute Morgen habe ich zum ersten Mal begriffen, wie das ist. Ich glaube, ich hätte sie vorhin auf dem Parkplatz erwürgt, wenn mein Vater und mein Bruder nicht dazwischengegangen wären.«
Er schlang die Arme um seinen Oberkörper, als ob er fröre, und blickte Pia aus blutunterlaufenen Augen an. »Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so beschissen gefühlt.«
Der Besprechungsraum fasste kaum alle Beamten, die Ostermann in die Regionale Kriminalinspektion beordert hatte. Da Bodenstein nach dem Unfall außerstande schien, die Leitung des Einsatzes zu übernehmen, ergriff Pia das Wort. Sie bat um Ruhe, umriss die Situation, zählte die Fakten auf und erinnerte die Kollegen daran, was höchste Priorität hatte, nämlich das Auffinden von Amelie Fröhlich und Thies Terlinden. In Abwesenheit von Behnke stellte niemand Pias Autorität in Frage, jeder hörte aufmerksam zu. Pias Blick fiel auf Bodenstein, der ganz hinten neben Kriminalrätin Dr. Engel an der Wand lehnte. Sie hatte ihm an der Tankstelle einen Kaffee geholt und ein Fläschchen Cognac hineingeleert. Er hatte getrunken, ohne zu protestieren, und jetzt schien es ihm etwas besserzugehen. Aber er stand offenbar noch immer unter Schock.
»Hauptverdächtig sind Gregor Lauterbach, Claudius Terlinden und Nadja von Bredow«, sagte Pia nun und trat an die Leinwand, auf die Ostermann eine Karte von Altenhain und Umgebung projiziert hatte. »Diese drei haben am meisten zu verlieren, sollte herauskommen, was damals in Altenhain wirklich geschehen ist. Terlinden und Lauterbach kamen an dem Abend aus dieser Richtung.« Sie wies auf die Feldstraße. »Zuvor waren sie in Idstein gewesen, aber das Haus haben wir schon durchsucht. Wir konzentrieren uns jetzt auf das Schwarze Ross. Der Inhaber und seine Frau stecken mit Terlinden unter einer Decke, es
Weitere Kostenlose Bücher