Schneewittchen muss sterben
spielte, waren ihm die Clique und ihre Band ungleich wichtiger. Früher waren sie Freunde gewesen, aber seit seine Eltern ihn gezwungen hatten, nach Königstein statt nach Schwalbach auf die Schule zu gehen, gehörte er nicht mehr richtig dazu. Dabei hatte er viel mehr drauf als Mark oder Kevin, denn er konnte wirklich gut Schlagzeug spielen. Nico seufzte und beobachtete den bärtigen Mann mit der Baseballkappe, der schon seit einer halben Stunde regungslos am anderen Ende des Bahnsteigs stand. Trotz des Regens hatte er sich nicht zu ihm in das Wartehäuschen gesetzt, es schien ihm egal zu sein, dass er nass wurde. Die S-Bahn aus Frankfurt kam. Acht Wagen im Berufsverkehr. Saß er hier strategisch günstig? Wenn die Jungs im vordersten Wagen waren, würde er sie vielleicht verpassen. Die Türen öffneten sich, Leute stiegen aus, spannten Schirme auf und rannten mit eingezogenem Genick zur Fußgängerbrücke oder an ihm vorbei zur Unterführung. Seine Kumpels waren nicht im Zug gewesen. Nico stand auf und ging langsam den Bahnsteig entlang. Da sah er wieder den Mann mit der Baseballkappe. Er folgte einer Frau Richtung Brücke, sprach sie an. Sie blieb stehen, doch dann schien sie Angst zu bekommen, denn sie ließ ihre Einkaufstüte fallen und lief weg.
Der Mann sprintete ihr nach, packte sie am Arm, sie schlug nach ihm. Nico blieb wie erstarrt stehen. Das war ja wie in einem Film! Der Bahnsteig war schon wieder menschenleer, die Türen des Zuges schlossen sich, und die S-Bahn fuhr an. Dann sah er die beiden auf der Fußgängerbrücke. Es sah so aus, als würden sie kämpfen. Und auf einmal war die Frau verschwunden. Nico hörte Bremsen quietschen, dann ein dumpfes Geräusch, gefolgt von metallischem Krachen und Splittern. Das endlose Band greller Scheinwerfer jenseits der Bahngleise kam ins Stocken. Fassungslos begriff Nico, dass er soeben Zeuge eines Verbrechens geworden war. Der Mann hatte die Frau einfach über das Brückengeländer hinunter auf die vielbefahrene Limesspange gestoßen! Und nun kam er direkt auf ihn zugerannt, mit gesenktem Blick, in der Hand die Tasche der Frau. Nicos Herz schlug bis zum Hals. Angst stieg in ihm auf. Wenn der Typ kapierte, dass er ihn beobachtet hatte, würde er nicht lange fackeln. Voller Panik rannte Nico los. Wie ein Hase floh er in die Unterführung, rannte, was seine Beine hergaben, bis er sein Fahrrad erreicht hatte, das er auf der Bad Sodener Seite der Gleise abgestellt hatte. Die Jungs waren ihm egal, genauso wie die Band und das Jugendzentrum. Er schwang sich auf sein Rad und trat keuchend in die Pedale, als der Mann die Treppe hinaufkam und ihm irgendetwas hinterherbrüllte. Nico riskierte einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass er ihm nicht folgte. Dennoch fuhr er in Höchstgeschwindigkeit am Eichwald entlang, bis er zu Hause und in Sicherheit war.
Die Straßenkreuzung an der S-Bahn-Haltestelle Sulzbach-Nord bot ein Bild der Verwüstung. Sieben Autos waren ineinandergerast, Feuerwehrleute versuchten, mit Schneidbrennern und schwerem Gerät die Blechknäuel zu entwirren, und streuten Sand in die Lachen ausgelaufenen Benzins. Mehrere Rettungswagen standen hintereinander und versorgten verletzte Unfallopfer. Trotz der Kälte und des Regens hatten sich Schaulustige hinter den Absperrbändern eingefunden, die sensationslüstern das grausige Schauspiel verfolgten. Bodenstein fragte sich durch, bis er Polizeioberkommissar Hendrik Koch vom Eschborner Revier gegenüberstand, der als einer der Ersten am Unfallort gewesen war.
»Ich hab ja schon so einiges erlebt, aber das ist wirklich das Übelste, was ich je gesehen habe.« Dem erfahrenen Polizisten stand das Grauen deutlich ins Gesicht geschrieben. Er erklärte Bodenstein und Pia in knappen Worten die Sachlage. Eine Frau war um 17:26 Uhr von der Fußgängerbrücke gefallen, direkt auf die Windschutzscheibe eines aus Richtung Schwalbach kommenden BMW. Der Fahrer hatte, ohne zu bremsen, sein Fahrzeug scharf nach links gezogen und war frontal in den Gegenverkehr gerast. Auf beiden Seiten hatte es daraufhin mehrere Auffahrunfälle gegeben. Ein Autofahrer, der in Sulzbach an der roten Ampel gestanden hatte, wollte gesehen haben, dass die Frau von einer anderen Person über das Geländer gestoßen worden war.
»Was ist mit der Frau?«, erkundigte sich Pia.
»Sie lebt«, erwiderte POK Koch und fügte hinzu: »Noch. Der Notarzt versorgt sie da drüben in einem der Rettungswagen.«
»Uns wurde ein Toter
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