Schneewittchen muss sterben
hinter einem Aktenordner, sondern blickte direkt in die Kameras. Als »eiskalten Killer« hatte man ihn bezeichnet, als arrogant, gefühlskalt und grausam.
»Die Eltern der ermordeten Mädchen treten als Nebenkläger beim Prozess gegen Tobias S., den Gastwirtssohn aus dem kleinen Dorf im Vordertaunus, auf. Doch auch das verzweifelte Flehen von Andrea W. und Beate S. ließ den Einserabiturienten kalt. Auf die Frage, was er mit den Leichen der beiden Mädchen gemacht habe, schwieg S., dem ein psychologisches Gutachten überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt. Taktik oder Arroganz? Selbst als die Richterin S. das Angebot machte, im Falle eines Geständnisses die Anklage wegen Mordes an Stefanie S. in Totschlag umzuwandeln, schwieg der junge Mann beharrlich. Das völlige Fehlen von Empathie erstaunte selbst erfahrene Prozessbeobachter. Die Staatsanwaltschaft hat keine Zweifel an seiner Täterschaft, da die Indizienkette und die Rekonstruktion des Tathergangs lückenlos sind. Zwar versuchte S. zuvor, durch zahlreiche Verleumdungen anderer und angebliche Erinnerungslücken seine Unschuld zu beweisen, aber das Gericht ließ sich nicht beirren. Den Urteilsspruch nahm Tobias S. ohne äußerliche Gefühlsregung auf, eine Revision lehnte das Gericht ab.«
Amelie überflog andere, ähnlich lautende Berichte über den Prozess, bis sie endlich einen Artikel fand, der sich mit den vorangegangenen Ereignissen befasste. Laura Wagner und Stefanie Schneeberger waren in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1997 spurlos verschwunden. In Altenhain war Kerb gewesen und das ganze Dorf auf den Beinen. Recht bald war Tobias Sartorius in den Fokus der Ermittlungen gerückt, denn Nachbarn hatten beobachtet, wie die beiden Mädchen am Abend das Haus seiner Eltern betreten, aber nicht mehr verlassen hatten. Mit Laura Wagner, seiner Exfreundin, hatte Tobias vor der Haustür heftig und handgreiflich gestritten. Beide hatten auf der Kerb größere Mengen Alkohol konsumiert. Wenig später war Stefanie Schneeberger, Tobias' aktuelle Freundin, dazugekommen. Er selbst hatte später ausgesagt, dass sie an diesem Abend mit ihm Schluss gemacht und er aus Verzweiflung darüber in seinem Zimmer noch fast eine ganze Flasche Wodka getrunken habe. Schon am nächsten Tag hatten Polizeihunde Blutspuren auf dem Grundstück der Sartorius gefunden; der Kofferraum von Tobias' Auto war voller Blut gewesen, außerdem hatte man Blut und Hautpartikel, die beiden Mädchen zugeordnet werden konnten, an seiner Kleidung und im Haus gefunden. Zeugen hatten Tobias noch in der Nacht am Steuer seines Autos erkannt, als er zu später Stunde die Hauptstraße entlanggefahren war. In seinem Zimmer war schließlich der Rucksack von Stefanie Schneeberger sichergestellt worden, die Halskette von Laura Wagner hatte in der Milchküche unter einem Waschbecken gelegen. Vorausgegangen war den Ereignissen eine Liebesgeschichte: Tobias hatte Laura für Stefanie verlassen, dann hatte Stefanie wiederum mit ihm Schluss gemacht. Daraufhin war es zu den Bluttaten gekommen, der reichlich konsumierte Alkohol mochte bei Tobias als Katalysator gewirkt haben. Zwar hatte er bis zum letzten Tag des Prozesses bestritten, mit dem Verschwinden der Mädchen etwas zu tun zu haben, aber das Gericht hatte seine angeblichen Erinnerungslücken nicht gelten lassen, und Entlastungszeugen waren auch nicht aufgetreten. Im Gegenteil. Seine Freunde hatten vor Gericht ausgesagt, Tobias sei hitzköpfig, oft jähzornig und daran gewöhnt, dass die Mädchen ihm zu Füßen lagen – schon möglich, dass er aus Frust über Stefanies Laufpass überreagiert habe. Er hatte nicht die geringste Chance gehabt.
Genau das verstärkte Amelies Neugier, die nichts so sehr hasste wie Ungerechtigkeiten, war sie doch selbst oft genug Opfer ungerechtfertigter Beschuldigungen geworden. Sie konnte nachvollziehen, wie Tobias sich gefühlt haben musste, sollten seine Unschuldsbeteuerungen tatsächlich wahr sein. Sie würde weitere Nachforschungen anstellen, wie genau, wusste sie noch nicht. Aber zuerst musste sie Tobias Sartorius kennenlernen.
Zwanzig nach fünf. Eine halbe Stunde lang musste er sich noch hier am Bahnsteig herumdrücken, bis die anderen Jungs auftauchen und ihn vielleicht ins Jugendzentrum zum Proben mitnehmen würden. Nico Bender hatte extra das Fußballtraining geschwänzt, nur um sie nicht zu verpassen, wenn sie mit der S-Bahn um fünf vor sechs aus Schwalbach kamen. Obwohl er für sein Leben gern Fußball
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