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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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die Hände in die Jackentaschen. Links hatte die alte Maria Kettels gewohnt, in einem winzigen Häuschen. Sie wäre seine einzige Entlastungszeugin gewesen, die Stefanie an jenem Abend spät noch gesehen haben wollte, aber ihre Aussage war vom Gericht nicht gehört worden. Jeder in Altenhain wusste, dass die Kettels-Marie an Demenz litt und dazu noch halbblind war. Sie musste damals schon weit über achtzig gewesen sein, sicherlich war sie mittlerweile auf den Friedhof umgezogen. Neben ihrem Grundstück lag das von Paschkes. Es grenzte direkt an den Sartorius-Hof und war so akkurat aufgeräumt wie immer. Der alte Paschke pflegte jedem Unkräutchen sofort mit der chemischen Keule zu Leibe zu rücken. Früher war er Arbeiter bei der Stadt gewesen und hatte aus dem Arsenal des städtischen Bauhofes schöpfen können, so wie sämtliche Nachbarn, die bei der Hoechst AG gearbeitet und ohne jedes Unrechtsbewusstsein ihre Häuser und Gärten mit dem Material der Firma erbaut und renoviert hatten. Paschkes waren die Eltern von Gerda Pietsch, der Mutter von Tobias' Freund Felix. Jeder war hier mit jedem um ein paar Ecken verwandt und mit den Familiengeschichten der anderen aufs beste vertraut. Man kannte die geheimsten Geheimnisse, tratschte mit Vorliebe über Verfehlungen, Niederlagen und Krankheiten der Nachbarn. Aufgrund seiner geographisch ungünstigen Lage in einem engen Tal war Altenhain von Neubaugebieten weitgehend verschont geblieben. Zugezogene gab es kaum, und so war die Dorfgemeinschaft seit hundert Jahren mehr oder weniger dieselbe gebliebe.
    Tobias hatte den Friedhof erreicht und drückte mit der Schulter gegen das kleine Holztor, das sich mit einem gequälten Quietschen öffnete. Die nackten Äste der mächtigen Bäume zwischen den Gräbern peitschten im Wind, der sich zu einem Sturm auswuchs. Langsam ging er durch die Reihen der Gräber. Friedhöfe hatten ihn noch nie gegruselt. Sie hatten für ihn etwas Friedvolles. Tobias näherte sich der Kirche, als die Turmuhr mit zwölf Schlägen die Mitte der Nacht verkündete. Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und blickte einen Augenblick den gedrungenen Turm aus grauem Quarzit hoch. Sollte er nicht doch besser auf Nadjas Angebot eingehen und zu ihr ziehen, bis er auf eigenen Füßen stehen konnte? In Altenhain wollte man ihn nicht, das war deutlich. Aber er konnte seinen Vater auch nicht einfach im Stich lassen! Er stand tief in der Schuld seiner Eltern, die sich nie von ihm, dem verurteilten Mädchenmörder, abgewandt hatten. Tobias ging um die Kirche herum und betrat den Vorraum. Er fuhr erschrocken zusammen, als er zu seiner Rechten eine Bewegung wahrnahm. Im schwachen Licht der Straßenlaterne erkannte er ein dunkelhaariges Mädchen, das auf der Lehne der Holzbank neben dem Eingangsportal saß und eine Zigarette rauchte. Sein Herz machte ein paar rasche Schläge, er traute seinen Augen kaum. Vor ihm saß Stefanie Schneeberger.
    Amelie war kaum weniger erschrocken, als plötzlich ein Mann unter das Vordach der Kirche trat. Seine Jacke glänzte vor Nässe, das dunkle Haar hing ihm tropfnass ins Gesicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber sie wusste trotzdem sofort, wer er war.
    »Guten Abend«, sagte sie und nahm die Ohrstöpsel ihres iPods aus den Ohren. Die Stimme von Adrian Hates, dem Sänger ihrer absoluten Lieblingsband Diary of Dreams, quäkte aus dem Kopfhörer, bis sie den iPod abschaltete. Es war ganz still, nur der Regen rauschte. Auf der Straße unterhalb der Kirche fuhr ein Auto vorbei. Das Licht der Scheinwerfer huschte für den Bruchteil einer Sekunde über das Gesicht des Mannes. Kein Zweifel, das war Tobias Sartorius! Amelie hatte sich im Internet genügend Fotos von ihm angesehen, um ihn zu erkennen. Eigentlich sah er nett aus. Ziemlich gut sogar. Gar nicht wie die ganzen anderen Typen in dem Kaff hier. Und schon gar nicht wie ein Mörder.
    »Hallo«, erwiderte er endlich und musterte sie mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck. »Was machst du hier so spät?«
    »Musik hören. Eine rauchen. Mir regnet's zu doll, um jetzt nach Hause zu latschen.«
    »Aha.«
    »Ich bin Amelie Fröhlich«, sagte sie. »Und du bist Tobias Sartorius, nicht wahr?«
    »Ja. Wieso?«
    »Ich habe viel von dir gehört.«
    »Das bleibt wohl nicht aus, wenn man in Altenhain wohnt.« Seine Stimme klang zynisch. Er schien zu überlegen, wo er sie einordnen sollte.
    »Ich wohne erst seit Mai hier«, erklärte Amelie. »Eigentlich komme ich aus Berlin. Aber ich hab

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