Schneewittchen muss sterben
ihnen …«
»Ich will es nicht hören!« Bodenstein holte tief Luft. »Geh du vor!«
»Also, so was!« Pia musste grinsen, als Bodenstein ihr auf dem Fuß folgte. Misstrauisch und jederzeit zur Flucht bereit, beäugte er die Müllberge zu beiden Seiten des schmalen Pfades, der zum Wohnhaus führte.
»Huch, da ist noch eine! Und was für eine fette.« Pia blieb abrupt stehen. Bodenstein prallte gegen sie und blickte sich panisch um. Seine übliche Gelassenheit war dahin.
»War nur ein Spaß«, grinste Pia, aber Bodenstein konnte nicht darüber lachen.
»Wenn du das noch mal machst, dann kannst du nachher zurück laufen«, drohte er. »Ich hab fast einen Herzinfarkt bekommen!«
Sie gingen weiter. Tobias Sartorius war im Haus verschwunden, aber die Haustür stand offen. Bodenstein überholte Pia auf den letzten Metern und erklomm die drei Treppenstufen zur Tür, wie ein Wanderer, der nach einem Gang durchs Moor endlich festen Boden unter den Füßen haben will. Im Türrahmen erschien ein älterer Mann mit krummen Schultern. Er trug abgenutzte Hausschlappen, eine fleckige graue Hose und eine fadenscheinige Strickjacke, die um seinen mageren Körper herumschlotterte.
»Sind Sie Hartmut Sartorius?«, fragte Pia, und der Mann nickte. Er wirkte ähnlich vernachlässigt wie sein Hof. In sein schmales, längliches Gesicht hatten sich tiefe Falten gegraben, und die einzige Ähnlichkeit mit Tobias Sartorius waren die ungewöhnlich blauen Augen, die aber jede Leuchtkraft verloren hatten.
»Es geht um meine Exfrau, sagt mein Sohn.« Seine Stimme war dünn.
»Ja«, Pia nickte. »Sie hatte gestern einen schweren Unfall.«
»Kommen Sie herein.« Er führte sie durch einen schmalen, düsteren Flur in eine Küche, die gemütlich hätte sein können, wäre sie nicht so schmutzig gewesen. Tobias stand am Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Frau Dr. Lauterbach hat uns Ihre Adresse gegeben«, begann nun Bodenstein, der sich schnell wieder gefasst hatte. »Laut Zeugenaussagen wurde Ihre Exfrau gestern am späten Nachmittag am S-Bahnhof Sulzbach-Nord von jemandem über das Brückengeländer direkt vor ein fahrendes Auto gestoßen.«
»Großer Gott.« Alle Farbe wich aus dem hageren Gesicht des Mannes, er griff nach der Lehne eines Stuhles. »Aber … aber wer tut denn so etwas?«
»Das werden wir herausfinden«, erwiderte Bodenstein. »Können Sie sich vorstellen, wer das getan haben könnte? Hatte Ihre Exfrau Feinde?«
»Meine Mutter wohl kaum«, meldete sich Tobias Sartorius aus dem Hintergrund zu Wort. »Aber ich. Nämlich das ganze verdammte Kaff hier.«
Seine Stimme klang bitter.
»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«, fragte Pia.
»Nein«, antwortete Hartmut Sartorius rasch. »Nein, so etwas Schreckliches traue ich niemandem zu.«
Pias Blick fiel auf Tobias Sartorius, der noch immer vor dem Fenster stand. Im Gegenlicht konnte sie seine Gesichtszüge nicht richtig erkennen, aber an der Art, wie er die Augenbrauen hob und den Mund verzog, war zu erkennen, dass er mit seinem Vater nicht einer Meinung war. Pia konnte die zornigen Schwingungen beinahe spüren, die von seinem angespannten Körper auszugehen schienen. In seinen Augen loderte eine lang unterdrückte Wut wie ein kleines, gefährliches Flämmchen, das nur auf einen Grund wartete, um sich in einen Flächenbrand zu verwandeln. Tobias Sartorius war zweifellos eine Bombe mit tickendem Zeitzünder. Sein Vater hingegen wirkte müde und kraftlos, wie ein sehr alter Mann. Der Zustand des Hauses und des Hofes sprachen für sich. Der Lebensmut des Mannes war erloschen, er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes hinter den Trümmern seines Lebens verbarrikadiert. Eltern eines Mörders zu sein war immer furchtbar, aber wie schlimm musste es für Hartmut Sartorius und seine geschiedene Frau gewesen sein, in einem so kleinen Dorf wie Altenhain ausharren zu müssen, jeder Tag ein neues Spießrutenlaufen, das Frau Sartorius irgendwann nicht mehr ertragen hatte? Sie hatte ihren Mann allein zurückgelassen, sicher mit einem schlechten Gewissen. Ein neuer Anfang war ihr nicht geglückt, das hatte die lieblose Leere ihrer Wohnung deutlich gezeigt.
Pia blickte zu Tobias Sartorius hinüber. Er nagte gedankenverloren an seinem Daumenknöchel und starrte vor sich hin. Was brütete er hinter seiner ausdruckslosen Miene aus? Machte ihm das, was er seinen Eltern angetan hatte, zu schaffen? Bodenstein reichte Hartmut Sartorius seine Karte, die dieser kurz betrachtete
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