Schneewittchen muss sterben
hinterließ. Mehr und mehr hatte er seiner Frau die Verantwortung für das Restaurant oben im Schloss überlassen, und Marie-Louise hatte in den letzten Jahren ein erstklassiges Sterne-Lokal etabliert, dessen guter Ruf weit über die Region hinausging.
Sie fanden das Geburtstagskind im Kreise von Familie und Gratulanten im Vorraum der Reithalle, die ebenso wunderbar geschmückt war. Bodenstein konnte seiner Mutter gerade zum Geburtstag gratulieren, als das Jagdhornbläsercorps des befreundeten Kelkheimer Reitvereins in der Reitbahn das Programm eröffnete. Die Vorführungen waren eine Überraschung der Einsteller und Reitschüler für ihre Gräfin. Bodenstein wechselte ein paar Worte mit seinem Sohn Lorenz, der mit der Kamera in der Hand die Ereignisse filmte. Seine Freundin Thordis trug die Verantwortung für das Gelingen der Dressurquadrille, den Auftritt der Voltigiergruppe und würde später auch bei der Springquadrille mitreiten. In der Menge traf Bodenstein auf seine Schwester Theresa, die extra für die Feier angereist war. Man hatte sich lange nicht gesehen und viel zu erzählen. Cosima hatte mit Sophia neben ihrer Mutter, der Gräfin Rothkirch, auf der Tribüne an der langen Seite der Reitbahn Platz genommen und verfolgte die Dressurquadrille.
»Cosima sieht zehn Jahre jünger aus«, stellte Bodensteins Schwester gerade fest und nippte an ihrem Sektglas. »Ich könnte neidisch werden.«
»Ein kleines Kind und ein guter Ehemann wirken eben Wunder«, entgegnete Bodenstein und grinste.
»Selbstgerecht wie eh und je, der kleine Bruder«, gab Theresa spöttisch zurück. »Als ob es tatsächlich an euch Kerlen liegen würde, wenn eine Frau gut aussieht!«
Sie war zwei Jahre älter als Bodenstein und sprühte wie immer vor Energie. Dass ihr ebenmäßiges Gesicht eher herb als schön war und sich erste graue Strähnen in ihr dunkles Haar mischten, tat ihrer Ausstrahlung keinen Abbruch. Sie habe sich jede Falte und jedes graue Haar hart erarbeitet, hatte sie einmal gesagt. Ihr durch einen Herzinfarkt früh dahingeschiedener Gatte hatte ihr eine angesehene, aber marode Kaffeerösterei in Hamburg hinterlassen, ein stark renovierungsbedürftiges Familienschloss in Schleswig-Holstein und mehrere hochverschuldete Immobilien in Hamburgs bester Lage. Als promovierte Betriebswirtin hatte sie nach dem Tod ihres Mannes trotz dreier Kinder und düsterer Zukunftsperspektiven energisch die Zügel in die Hand genommen und sich furchtlos in den Kampf gegen Gläubiger und Banken gestürzt. Nun, nach zehn Jahren harter Arbeit und geschickten Taktierens, waren Firma und Privatbesitz gerettet und saniert. Kein Arbeitsplatz war verlorengegangen, und Theresa genoss bei Belegschaft und Geschäftspartnern allerhöchstes Ansehen.
»Apropos Kerle«, meldete sich Quentin zu Wort. »Wie sieht es bei dir aus, Esa? Gibt es Neuigkeiten?« Sie lächelte. »Eine Dame genießt und schweigt.«
»Warum hast du ihn nicht mitgebracht?«
»Weil ich wusste, dass ihr euch auf den armen Kerl stürzen und ihn gnadenlos sezieren würdet.« Sie nickte in Richtung ihrer Eltern und der übrigen Verwandtschaft, die gebannt die Ereignisse in der Reitbahn verfolgten. »Und die ganze Mischpoke ebenfalls.«
»Also hast du einen«, bohrte Quentin weiter. »Verrat uns doch etwas über ihn.«
»Nein.« Sie hielt dem jüngsten Bruder ihr leeres Glas hin. »Du könntest mal für Nachschub sorgen.«
»Immer ich«, beschwerte sich Quentin, gehorchte aber aus alter Gewohnheit und verschwand.
»Habt ihr Probleme, Cosima und du?«, wandte sich Theresa an Bodenstein. Der blickte seine Schwester überrascht an.
»Nein«, sagte er. »Wie kommst du denn darauf?«
Sie zuckte die Achseln, ließ die Schwägerin nicht aus den Augen. »Irgendetwas ist anders zwischen euch.«
Bodenstein kannte die unfehlbare Intuition seiner Schwester. Es hatte keinen Sinn zu leugnen, dass es zwischen Cosima und ihm tatsächlich nicht zum Besten stand.
»Na ja, im Sommer nach unserer Silberhochzeit hatten wir eine kleine Krise«, gab er deshalb zu. »Cosima hatte eine Finca auf Mallorca gemietet und wollte drei Wochen mit der ganzen Familie Urlaub machen. Nach einer Woche musste ich abreisen, wir hatten einen schwierigen Fall. Das hat sie mir übelgenommen.«
»Aha.«
»Sie hat mir vorgeworfen, ich ließe sie mit Sophia völlig allein, obwohl wir es ursprünglich anders besprochen hätten. Aber was sollte ich denn tun? Ich kann ja schließlich nicht in Elternzeit gehen und den Hausmann
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