Schneewittchen muss sterben
und dann in die Tasche seiner Strickjacke steckte.
»Vielleicht könnten Sie und Ihr Sohn sich um Ihre Exfrau kümmern. Es geht ihr wirklich nicht gut.«
»Natürlich. Wir fahren sofort ins Krankenhaus.«
»Und wenn Sie einen Verdacht haben, wer das getan haben könnte, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen.«
Sartorius senior nickte, sein Sohn reagierte nicht. Pia beschlich eine ungute Vorahnung. Hoffentlich begann Tobias Sartorius nicht, auf eigene Faust nach dem Mann zu suchen, der seine Mutter überfallen hatte.
Hartmut Sartorius fuhr sein Auto in die Garage. Der Besuch bei Rita war entsetzlich gewesen. Der Arzt, mit dem er gesprochen hatte, wollte keine Prognose wagen. Glück habe sie gehabt, hatte er gesagt, dass ihre Wirbelsäule nahezu unverletzt geblieben sei, aber ansonsten seien von allen 206 Knochen des menschlichen Körpers etwa die Hälfte gebrochen, ganz zu schweigen von den schweren inneren Verletzungen, die sie bei dem Sturz auf das fahrende Auto erlitten habe. Tobias hatte auf der Rückfahrt keinen Ton von sich gegeben, nur düster vor sich hin gestarrt. Sie gingen durchs Tor zum Haus, aber vor der Treppe zur Haustür blieb Tobias stehen und schlug den Kragen seiner Jacke hoch.
»Was hast du vor?«, fragte Hartmut Sartorius seinen Sohn.
»Ich gehe noch ein bisschen frische Luft schnappen.«
»Jetzt? Es ist gleich halb zwölf. Und es gießt in Strömen. Du wirst doch klatschnass bei dem Sauwetter.«
»Ich hatte in den letzten zehn Jahren überhaupt kein Wetter.« Tobias blickte seinen Vater an. »Es stört mich nicht, wenn ich nass werde. Und um die Uhrzeit sieht mich wenigstens niemand.«
Hartmut Sartorius zögerte, aber dann legte er seinem Sohn die Hand auf den Arm.
»Mach keinen Unsinn, Tobi. Bitte versprich mir das.«
»Natürlich nicht. Musst dir keine Sorgen machen.« Er lächelte kurz, obwohl ihm nicht nach Lächeln zumute war, und wartete, bis sein Vater im Haus verschwunden war. Mit gesenktem Kopf lief er durch die Dunkelheit, vorbei an den leerstehenden Stallungen und der Scheune. Der Gedanke an seine Mutter, wie sie mit zerschmetterten Knochen auf der Intensivstation lag, mit den ganzen Schläuchen und Apparaten, setzte ihm mehr zu, als er erwartet hatte. Stand dieser Angriff auf sie im Zusammenhang mit seiner Freilassung? Wenn sie sterben würde, was die Ärzte nicht für ausgeschlossen hielten, dann hatte derjenige, der sie von der Brücke gestoßen hatte, einen Mord auf dem Gewissen.
Tobias hielt inne, als er das hintere Hoftor erreichte. Es war geschlossen und von Efeu und Unkraut überwuchert. Wahrscheinlich war es in den letzten Jahren nicht mehr geöffnet worden. Gleich morgen würde er mit dem Aufräumen beginnen. Seine Sehnsucht nach frischer Luft und selbstbestimmter Arbeit nach zehn Jahren war enorm. Schon nach drei Wochen im Knast hatte er gemerkt, dass er verblöden würde, wenn er seinen Geist nicht anstrengte. Eine Chance auf vorzeitige Entlassung habe er nicht, hatte ihm sein Anwalt mitgeteilt, eine Revision war abgelehnt worden. Deshalb hatte er sich um ein Studium an der Fernuniversität Hagen beworben und sofort eine Ausbildung zum Schlosser begonnen. Jeden Tag hatte er acht Stunden gearbeitet und nach einer Stunde Sport die halbe Nacht über seinen Büchern gesessen, um sich abzulenken und die Eintönigkeit der Tage erträglicher zu machen. Er hatte sich im Laufe der Jahre an die strengen Regeln gewöhnt, und die plötzliche Strukturlosigkeit seines Lebens erschien ihm bedrohlich. Nicht dass er Heimweh nach dem Knast gehabt hätte, aber es würde eine Weile dauern, bis er sich wieder an die Freiheit gewöhnt hätte. Tobias schwang sich über das Tor und blieb im Schutze des Kirschlorbeers stehen, der sich zu einem mächtigen Baum entwickelt hatte. Er wandte sich nach links, ging an der Einfahrt des Terlinden-Anwesens vorbei. Das doppelflügelige schmiedeeiserne Tor war geschlossen, neu war die Kamera oberhalb des einen Torpfostens. Hinter dem Haus begann gleich der Wald. Nach etwa fünfzig Metern bog Tobias in den schmalen Fußweg ein, von den Ortsansässigen der »Stichel« genannt, der sich quer durch das Dorf bis zum Friedhof schlängelte, vorbei an den rückwärtigen Gärtchen und Hinterhöfen der eng beieinanderstehenden Häuser. Tobias kannte jeden Winkel, jede Treppenstufe und jeden Zaun – nichts hatte sich verändert! Als Kinder und Jugendliche waren sie oft hier entlanggelaufen, auf dem Weg zur Kirche, zum Sport oder zu Freunden. Er steckte
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