Schneewittchen muss sterben
waren. Elf Jahre war es her, dass er ein solches Geheimtreffen einberufen und damit noch größeres Unheil verhindert hatte. Nun war es höchste Zeit, erneut Maßnahmen zu ergreifen, bevor die Situation eskalierte. Er stand neben der Orgel auf der Empore, hinter einem der Holzbalken verborgen, und beobachtete mit wachsender Nervosität, wie sich die Bankreihen unter ihm allmählich füllten. Das Flackern der wenigen Kerzen im Altarraum warf groteske Schatten an Decke und Wände des gewölbeartigen Kirchenschiffs. Elektrisches Licht hätte möglicherweise ungewollte Aufmerksamkeit erregt, denn selbst der dichte Nebel, der sich draußen herabgesenkt hatte, würde die hell erleuchteten Kirchenfenster nicht verbergen können. Er räusperte sich, rieb die feuchten Handflächen aneinander. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es so weit war. Sie waren alle da. Langsam tastete er sich die hölzerne Wendeltreppe nach unten, die Stufen knarrten unter seinem Gewicht. Als er aus der Dunkelheit in das schummerige Kerzenlicht trat, erstarben die flüsternd geführten Gespräche. Die Kirchturmglocke schlug elfmal – eine perfekte Choreographie. Er trat vor die erste Bankreihe in den Mittelgang, blickte in die vertrauten Gesichter; was er sah, machte ihm Mut. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und er erkannte in ihnen dieselbe Entschlossenheit wie damals. Sie alle hatten verstanden, um was es hier ging.
»Danke, dass ihr heute Abend hierhergekommen seid«, begann er die Rede, an der er im Geiste lange gefeilt hatte. Obwohl er leise sprach, drang seine Stimme bis in den letzten Winkel des großen Raumes. Die Akustik der Kirche war perfekt, das wusste er von den Chorproben. »Die Situation ist unhaltbar geworden, seitdem
er
wieder da ist, und ich habe euch heute hierhergebeten, um mit euch zu entscheiden, wie wir mit der Sache umgehen.«
Er war kein geübter Redner, zitterte innerlich vor Aufregung, wie immer, wenn er vor anderen Menschen sprechen musste. Dennoch gelang es ihm, sein und des Dorfes Anliegen in wenige Worte zu fassen. Keinem der Anwesenden musste erklärt werden, um was es heute Abend ging, und so zuckte auch niemand mit der Wimper, als er seinen Entschluss verkündete. Für einen Augenblick herrschte Totenstille. Jemand hustete unterdrückt. Er spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Auch wenn er von der absoluten Notwendigkeit seines Vorhabens fest überzeugt war, so war er sich doch dessen bewusst, dass er in einer Kirche stand und zu einem Mord aufgerufen hatte. Sein Blick glitt über die Gesichter der vierunddreißig Menschen vor ihm. Jeden Einzelnen kannte er, seitdem er denken konnte. Niemand von ihnen würde auch nur ein Wort über das, was hier besprochen wurde, verlauten lassen. Damals, vor elf Jahren, war es nicht anders gewesen. Gespannt wartete er.
»Ich bin dabei«, ertönte endlich eine Stimme aus der dritten Reihe.
Es wurde still. Ein Freiwilliger fehlte noch. Zu dritt mussten sie mindestens sein.
»Ich komme auch mit«, sagte schließlich jemand. Ein Aufseufzen ging durch die Versammlung.
»Gut.« Er war erleichtert. Für einen Moment hatte er befürchtet, sie würden einen Rückzieher machen. »Es wird eine Warnung sein. Wenn er danach nicht freiwillig verschwindet, machen wir Ernst.«
Mittwoch 12. November 2008
Missvergnügt betrachtete Dr. Nicola Engel ihr dezimiertes K11. Sie waren nur zu viert bei der morgendlichen Teambesprechung, außer Behnke fehlte heute auch Kathrin Fachinger. Während Ostermann über das wenig zufriedenstellende Echo ihres Fahndungsaufrufes berichtete, rührte Bodenstein mit abwesender Miene in seinem Kaffee. Pia fand, er sah übernächtigt aus, als habe er nicht viel Schlaf gefunden. Was war bloß mit ihm los? Seit ein paar Tagen machte er den Eindruck, als würde er einen Meter neben sich stehen. Pia vermutete familiäre Sorgen. Im Mai des vorletzten Jahres war er schon mal so seltsam gewesen; damals hatte er sich Sorgen um Cosimas Gesundheit gemacht, die sich im Nachhinein als unbegründet erwiesen hatten – er hatte nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst.
»Also.« Dr. Engel ergriff das Wort, als Bodenstein es nicht tat. »Bei dem Skelett aus dem Flugzeughangar handelt es sich um die seit dem September 1997 vermisste Laura Wagner aus Altenhain. Die DNA passt, die verheilte Fraktur des linken Oberarmes stimmt mit einem Vergleich antemortaler Röntgenaufnahmen überein.«
Pia und Ostermann kannten den Inhalt des rechtsmedizinischen
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