Schneewittchen muss sterben
Stimmung. Nach der fünften Flasche Bier wurde Felix redselig.
»Ich mach mir heute noch Vorwürfe, dass ich damals den Bullen erzählt hab, dass wir noch mal bei dir waren, Alter«, sagte er zu Tobias und legte ihm schwer die Hand auf die Schulter.
»Ihr habt nur die Wahrheit gesagt.« Tobias zuckte die Achseln. »Es konnte ja keiner ahnen, wohin das alles führen würde. Ist aber jetzt auch egal. Ich bin wieder da, und ich bin echt froh, dass ihr mir nicht aus dem Weg geht, wie die meisten hier im Dorf.«
»Quatsch.« Jörg klopfte ihm auf die andere Schulter. »Wir sind doch Freunde, Mann! Weißt du noch, wie wir den alten Opel, den mein Onkel in tausend Stunden Fummelarbeit restauriert hat, zu Schrott gefahren haben? Mensch, da war was los!«
Tobias erinnerte sich, Felix auch. Und schon waren sie mittendrin im
Weißt du noch?
Die Party bei Terlindens, bei der sich die Mädchen ausgezogen hatten und mit Mutter Terlindens Pelzmänteln durchs Haus gerannt waren. Der Geburtstag von Micha, als die Bullen anrückten. Die Mutproben auf dem Friedhof. Die Italienreise mit der C-Jugend. Das Feuer beim Martinsumzug, das außer Kontrolle geraten war, weil Felix einen Kanister Benzin als Brandbeschleuniger benutzt hatte. Sie kamen aus den Erinnerungen und aus dem Lachen nicht mehr heraus. Jörg wischte sich die Lachtränen vom Gesicht.
»Mensch, könnt ihr euch erinnern, wie meine Schwester den Schlüsselbund von meinem Alten für den Flugplatz geklaut hat und wir in dem alten Flugzeughangar Rennen gefahren sind? Mann, das war geil!«
Amelie saß an ihrem Schreibtisch und surfte im Internet, als es an der Haustür klingelte. Sie klappte ihren Laptop zu und sprang auf. Es war Viertel vor elf! Verflucht! Hatten die Alten den Haustürschlüssel vergessen? Auf Strümpfen sauste sie die Treppe hinunter, bevor es noch einmal klingelte und die Kleinen wach wurden, die sie mit Mühe und Not vor einer Stunde ins Bett befördert hatte. Sie warf einen Blick auf den kleinen Monitor, der mit den beiden Kameras links und rechts der Haustür verbunden war. Das unscharfe Schwarzweißbild zeigte einen Mann mit hellen Haaren. Amelie riss die Tür auf und staunte nicht schlecht, als Thies vor ihr stand. Seit sie ihn kannte, war er noch nie bis an ihre Haustür gekommen, und geklingelt hatte er erst recht nicht. Ihr Erstaunen verwandelte sich in Besorgnis, als sie erkannte, in welchem Zustand der Freund war. So nervös hatte sie Thies noch nie erlebt. Seine Hände flatterten hin und her, seine Augen flackerten, er zuckte am ganzen Körper.
»Was ist denn los?«, fragte Amelie leise. »Ist was passiert?«
Statt zu antworten, hielt Thies ihr eine Papierrolle hin, die sorgfältig mit einem breiten Band verschnürt war. Amelies Füße verwandelten sich auf dem kalten Treppenabsatz in Eisklumpen, aber sie machte sich echte Sorgen um den Freund.
»Willst du nicht reinkommen?«
Thies schüttelte heftig den Kopf und sah sich immer wieder um, als befürchte er, verfolgt zu werden.
»Die Bilder darf niemand sehen«, sagte er plötzlich mit seiner wie immer etwas heiser klingenden Stimme. »Du musst sie verstecken.«
»Klar«, sagte sie. »Mach ich.«
Die Scheinwerfer eines Autos krochen durch den Nebel die Straße hoch und erfassten sie für einen Moment, als der Wagen in die Einfahrt der Lauterbachs einbog. Die Garage befand sich nur knapp fünf Meter unterhalb der Treppe, auf der Amelie gerade stand – allein, wie sie plötzlich feststellte; Thies war wie vom Erdboden verschluckt. Daniela Lauterbach stellte den Motor ab und stieg aus.
»Hallo, Amelie!«, rief sie freundlich.
»Hallo, Frau Dr. Lauterbach«, erwiderte Amelie.
»Was stehst du denn vor der Haustür herum? Hast du dich ausgesperrt?«
»Ich bin grad von der Arbeit gekommen«, sagte Amelie schnell, ohne recht zu wissen, warum sie die Nachbarin anlog.
»Na dann. Grüß deine Eltern. Gute Nacht!« Dr. Lauterbach winkte ihr zu und ließ per Fernbedienung das elektrische Tor der Doppelgarage hochfahren. Sie ging hinein, und das Tor senkte sich wieder hinter ihr.
»Thies?«, zischte Amelie. »Wo bist du?«
Sie fuhr erschrocken zusammen, als er hinter der großen Eibe hervortrat, die neben der Haustür stand.
»Was soll das?«, flüsterte sie. »Warum …?«
Ihr blieben die Worte im Hals stecken, als sie Thies' Gesicht sah. In seinen Augen stand nackte Angst – wovor fürchtete er sich? Tief besorgt streckte sie die Hand nach ihm aus und berührte seinen Arm, um ihn zu
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