Schneewittchen muss sterben
Millionenhöhe wettmachen konnte.
»Ich bin in zwanzig Minuten im Büro«, sagte er zu seiner Sekretärin, als sich die Milchglasscheiben vor ihm öffneten. Er war erschöpft, ausgebrannt, fertig mit den Nerven und der Welt. Und das mit gerade mal dreißig Jahren. Schlafen konnte er nur noch mit Tabletten, das Essen fiel ihm schwer, nur trinken, das ging noch. Lars Terlinden wusste, dass er auf dem besten Weg war, ein Alkoholiker zu werden, aber um das Problem konnte er sich später kümmern, wenn dieses Drama überstanden war. Wobei ein Ende nicht in Sicht war. Die Weltwirtschaft wankte, die größten Banken Amerikas gingen bankrott. Lehman Brothers war nur der Anfang gewesen. Sein eigener Arbeitgeber, immerhin eine der größten Schweizer Banken, hatte im letzten Jahr schon 5000 Mitarbeiter weltweit entlassen, in den Büros und Fluren herrschte nackte Existenzangst. Das Telefon klingelte wieder, er steckte es in die Tasche und beachtete es nicht. Die Nachricht von der Pleite von Schönhausens Immobilienimperium vor sechs Wochen hatte ihn völlig unerwartet getroffen, noch zwei Tage zuvor hatte er mit Schönhausen im Adlon in Berlin zu Mittag gegessen. Da hatte der Mann längst gewusst, dass die Insolvenz bevorstand, dieser aalglatte Schweinehund, der mittlerweile von Interpol gesucht wurde, weil er sich aus dem Staub gemacht hatte. In einem Kraftakt war es Lars Terlinden wenigstens noch geglückt, einen großen Teil des Kreditportfolios zu verbriefen und an Investoren zu verkaufen, aber 350 Millionen Euro waren futsch.
Eine Frau trat ihm in den Weg, er wollte ihr ausweichen, denn er hatte es eilig, aber sie blieb beharrlich stehen und sprach ihn an. Da erst erkannte er seine Mutter, die er seit acht Jahren nicht mehr gesehen hatte.
»Lars!«, wiederholte sie bittend. »Lars, bitte warte doch!«
Sie sah aus wie immer. Zierlich und gepflegt, das goldblonde Haar zu einem perfekten Pagenschnitt frisiert. Dezentes Make-up, die Perlenkette am sonnengebräunten Dekollete. Sie lächelte demütig, und das brachte ihn sofort auf die Palme.
»Was willst du?«, fragte er unfreundlich. »Hat dein Mann dich geschickt?«
Die Worte
mein Vater
brachte er nicht über die Lippen.
»Nein, Lars. So bleib doch stehen. Bitte.«
Er verdrehte die Augen und gehorchte. Als Kind hatte er seine Mutter verehrt, sie angehimmelt und schmerzlich vermisst, wenn sie wieder einmal für Tage oder mehrere Wochen auf Reisen war und ihn und Thies der Haushälterin überlassen hatte. Er hatte ihr alles verziehen, um ihre Liebe gebuhlt, aber nie mehr bekommen als ein Lächeln, schöne Worte und Versprechungen. Erst sehr viel später hatte er begriffen, dass sie nicht mehr geben konnte, weil sie nicht mehr hatte. Christine Terlinden war ein leeres Gefäß, eine geistlose Schönheit ohne jede Persönlichkeit, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, die perfekte repräsentative Ehefrau des erfolgreichen Konzernlenkers Claudius Terlinden zu sein.
»Gut siehst du aus, Junge. Ein bisschen mager vielleicht.« Sie blieb sich auch jetzt treu. Nach all der Zeit reichte es wieder nur zu einer ihrer Floskeln. Lars Terlinden hatte angefangen, seine Mutter zu verachten, als ihm klargeworden war, dass sie ihn sein ganzes Leben lang getäuscht hatte.
»Was willst du, Mutter?«, wiederholte er ungeduldig.
»Tobias ist aus dem Gefängnis zurück«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Und die Polizei hat das Skelett von Laura gefunden. Auf dem alten Flugplatz in Eschborn.«
Er biss die Zähne zusammen. Unversehens raste sein Leben im Zeitraffertempo zurück in die Vergangenheit. Er hatte das entsetzliche Gefühl, mitten in der Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens wieder zu einem pickligen Neunzehnjährigen zusammenzuschrumpfen, dem die nackte Angst im Genick saß. Laura! Nie würde er ihr Gesicht vergessen, ihr Lachen, ihre unbekümmerte Lebensfreude, der so jäh ein Ende gesetzt worden war. Er hatte nicht einmal mehr mit Tobias sprechen können, so schnell hatte sein Vater alle Entscheidungen für ihn getroffen und ihn in Windeseile auf das Landgut irgendeines Bekannten im tiefsten Oxfordshire verbannt.
Denk an deine Zukunft, Junge! Halt dich da raus, halt nur den Mund. Dann wird nichts passieren.
Er hatte natürlich auf seinen Vater gehört. Sich rausgehalten und geschwiegen. Es war zu spät gewesen, als er von Tobis Verurteilung gehört hatte. Elf Jahre lang hatte er alles getan, um nicht mehr daran denken zu müssen, an diesen schrecklichen Abend, an
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