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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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beruhigen. Er zuckte zurück.
    »Du musst gut auf die Bilder aufpassen.« Die Worte klangen abgehackt, seine Augen glänzten fiebrig. »Keiner darf die Bilder sehen. Auch du nicht! Du musst es versprechen!«
    »Ja, ja. Ich versprech's dir. Aber was …«
    Bevor sie die Frage vollenden konnte, war Thies in der nebligen Dunkelheit verschwunden. Amelie blickte ihm kopfschüttelnd nach. Sie konnte sich keinen Reim auf das eigenartige Verhalten ihres Freundes machen. Aber man musste Thies eben so nehmen, wie er war.
    Cosima lag tief und fest schlafend auf der Couch im Wohnzimmer, der Hund hatte sich in ihren Kniekehlen zusammengerollt und hob nicht einmal den Kopf, sondern wedelte nur faul mit der Schwanzspitze, als Bodenstein hereinkam und stehen blieb, um das friedvolle Bild in sich aufzunehmen. Cosima schnarchte ganz leise, die Lesebrille war ihr auf die Nase gerutscht, das Buch, in dem sie gelesen hatte, lag auf ihrer Brust. Normalerweise wäre er jetzt zu ihr hingegangen und hätte sie mit einem Kuss geweckt, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Doch die unsichtbare Mauer, die plötzlich zwischen ihnen stand, hielt ihn davon ab. Das Gefühl der Zärtlichkeit, das sich sonst in ihm ausbreitete, sobald er seine Frau sah, blieb zu seinem Erstaunen aus. Es war höchste Zeit für eine offene Konfrontation, bevor das Misstrauen seine Ehe vergiftete. Eigentlich sollte er sie jetzt an der Schulter packen und schütteln und sie fragen, warum sie ihn angelogen hatte, doch seine feige Harmoniesucht und die Angst vor einer Wahrheit, die er nicht würde ertragen können, hielten ihn davon ab. Er wandte sich ab und ging in die Küche. Der Hund, von verfressener Hoffnung getrieben, sprang von der Couch, um ihm zu folgen, und weckte Cosima damit. Sie erschien mit verschlafenem Gesicht in der Küche, als er sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank nahm. »Hallo«, sagte er.
    »Ich bin wohl eingeschlafen«, erwiderte sie. Er löffelte den Joghurt und betrachtete sie unauffällig. Auf einmal bemerkte er Falten in ihrem Gesicht, die ihm zuvor nie aufgefallen waren, schlaffer werdende Haut an ihrem Hals und Wassereinlagerungen unter ihren müden Augen. Sie sah aus wie eine Frau von fünfundvierzig Jahren. War mit dem Vertrauen auch plötzlich der Weichzeichner seiner Zuneigung verschwunden?
    »Wieso hast du heute im Büro angerufen und nicht bei mir auf dem Handy?«, fragte sie beiläufig, während sie suchend in den Kühlschrank blickte.
    »Weiß ich gar nicht mehr«, log er und kratzte konzentriert den Joghurtbecher aus. »Ich bin wohl aus Versehen auf die falsche Nummer gekommen, und danach hab ich nicht mehr dran gedacht. War nicht wichtig.«
    »Na ja, ich war nur im Main-Taunus-Zentrum ein paar Sachen einkaufen.« Cosima schloss den Kühlschrank und gähnte. »Kira hat mir Sophiechen abgenommen. Ohne sie geht alles ein bisschen schneller.«
    »Hm, natürlich.« Er stellte dem Hund den leeren Becher hin. Einen Moment lang überlegte er, ob er sie fragen sollte, was sie denn eingekauft hatte, denn er glaubte ihr kein Wort. Und plötzlich wurde ihm klar, dass er das nie mehr tun würde.
    Amelie hatte die Rolle mit den Bildern in ihrem Kleiderschrank versteckt und sich wieder an den Laptop gesetzt. Aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Es kam ihr vor, als würden ihr die Bilder leise zurufen:
»Schau uns an! Komm schon! Hol uns raus!«
    Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und starrte den Schrank an, haderte mit ihrem Gewissen. Unten knallten Autotüren, die Haustür ging auf.
    »Wir sind wieder da!«, rief ihr Vater. Amelie ging kurz nach unten, um die Leute, bei denen sie wohnte, zu begrüßen. Obwohl Barbara und die kleinen Nervensägen sie freundlich aufgenommen hatten, brachte sie es nie über sich, »meine Familie« zu denken oder gar zu sagen. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und überlegte. Nebenan rauschte die Toilettenspülung. Was konnte auf den Bildern drauf sein? Thies malte immer so einen abstrakten Kram, mal abgesehen von diesem geilen Porträt von ihr, das sie vorgestern gesehen hatte. Aber warum wollte er die Bilder unbedingt verstecken? Es schien ihm verdammt wichtig gewesen zu sein, immerhin hatte er bei ihr geklingelt und sie gebeten, die Dinger niemandem zu zeigen. Das war schon sehr eigenartig.
    Amelie wartete, bis Ruhe im Haus eingekehrt war, dann ging sie zum Schrank und nahm die Rolle heraus. Sie war ziemlich schwer, es mussten mehr als nur zwei oder drei Bilder sein. Und

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