Schneewittchen muss sterben
sein Entsetzen, an seine Angst. Elf beschissene Jahre lang hatte er beinahe rund um die Uhr gearbeitet, nur um vergessen zu können. Und jetzt kam seine Mutter im Pelzmäntelchen angetrippelt und riss mit puppenhaftem Lächeln die alten Wunden auf.
»Das interessiert mich nicht mehr, Mutter«, sagte er scharf. »Ich habe nichts damit zu tun.«
»Aber …«, setzte sie an, doch er ließ sie nicht ausreden.
»Lass mich in Ruhe!«, zischte er. »Hast du verstanden? Ich wünsche nicht, dass du mich noch mal kontaktierst! Halt dich einfach von mir fern, wie du es dein Leben lang getan hast!«
Damit drehte er sich um, ließ sie stehen und marschierte zu der Rolltreppe, die hinunter zum S-Bahnhof führte.
Sie standen in der Garage und tranken Bier direkt aus der Flasche, ganz wie früher. Tobias fühlte sich unbehaglich, und allen anderen schien es ebenso zu gehen. Weshalb war er überhaupt hierhergekommen? Sein alter Freund Jörg hatte ihn zu seiner Überraschung am Nachmittag angerufen und ihn eingeladen, mit ihm, Felix und ein paar Kumpels ein Bierchen zu trinken. In der großen Garage, die Jörgs Onkel gehörte, hatten sie als Jugendliche oft zusammen an ihren Mofas, später dann an den Mopeds und schließlich an ihren Autos herumgeschraubt. Jörg war ein begnadeter Automechaniker, der schon als Junge davon geträumt hatte, Rennfahrer zu werden. Es roch in der Garage genauso wie in Tobias' Erinnerung, nach Motoröl und Lack, nach Leder und Politur. Sie saßen auf derselben alten Werkbank, auf umgedrehten Bierkästen und Autoreifen. Nichts um sie herum hatte sich verändert. Tobias hielt sich aus dem Gespräch heraus, das wohl wegen seiner Anwesenheit so gezwungen launig geriet. Jeder hatte ihn zwar mit Handschlag begrüßt, aber die Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen. Nach einer Weile ergab es sich, dass Tobias, Jörg und Felix zusammenstanden. Felix war Dachdecker geworden, im Betrieb seines Vaters. Schon als Teenager war er von kräftiger Statur gewesen, die schwere Arbeit und eifriger Bierkonsum hatten ihn über die Jahre zu einem Koloss gemacht. Seine gutmütigen Augen verschwanden beinahe in einer Fettschicht, wenn er lachte. Tobias musste an ein Rosinenbrötchen denken. Jörg hingegen sah noch fast aus wie damals, nur sein Haaransatz war weit die Stirn hinaufgerutscht.
»Was ist eigentlich aus Lars geworden?«, fragte Tobias.
»Nicht das, was sein Alter sich erhofft hatte.« Felix grinste boshaft. »Auch die Reichen haben Probleme mit ihren Kindern. Der eine ist ein Depp, und der andere hat ihm was geschissen.«
»Lars hat richtig fett Karriere gemacht«, erklärte Jörg. »Hat mir meine Mutter erzählt, die weiß es von seiner. Investmentbanking. Großes Geld. Ist verheiratet, zwei Kinder, und hat 'ne Riesenvilla in Glashütten gekauft, nachdem er aus England zurückgekommen ist.«
»Ich dachte immer, er wollte Theologie studieren und Priester werden«, bemerkte Tobias. Der Gedanke an den besten Freund, der so plötzlich und ohne jeden Abschied aus seinem Leben verschwunden war, schmerzte zu seinem Erstaunen tatsächlich.
»Ich wollte auch nie Dachdecker werden.« Felix öffnete mit seinem Feuerzeug eine neue Flasche Bier. »Aber beim Bund wollten sie mich nicht und bei der Polizei auch nicht, und die Lehre als Bäcker hab ich ja geschmissen, kurz nachdem … äh … ihr wisst schon …«
Er brach ab, senkte verlegen den Blick.
»Und ich konnte nach meinem Unfall eine Karriere als Rennfahrer abschreiben«, fügte Jörg eilig hinzu, bevor das Schweigen noch peinlicher wurde. »Deshalb bin ich auch nicht in der Formel 1 gelandet, sondern im Schwarzen Ross. Du weißt ja, dass meine Schwester den Jagielski geheiratet hat, oder?«
Tobias nickte. »Mein Vater hat's mir damals erzählt.«
»Tja.« Jörg nahm einen Schluck aus der Bierflasche. »Scheint ganz so, als ob keiner von uns das erreicht hat, wovon er mal geträumt hat.«
»Nathalie schon«, entgegnete Felix. »Mensch, was haben wir sie immer ausgelacht, wenn sie gesagt hat, dass sie eine berühmte Schauspielerin werden will!«
»Zielstrebig war sie schon immer«, sagte Jörg. »Was die uns rumkommandiert hat! Aber dass sie mal so eine Berühmtheit wird, hätte ich auch nie gedacht.«
»Na ja.« Tobias grinste ein bisschen. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mal im Knast eine Schlosserlehre und ein Wirtschaftsstudium mache.«
Seine Freunde zögerten erst einen Moment verlegen, aber dann lachten sie. Der Alkohol lockerte die
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