Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
Vom Netzwerk:
hatte er im Bett gelegen, schweißnass und wie verrückt vor Angst. Daniela hatte von ihrem Zimmer aus das Gespräch entgegengenommen, wenig später war sie den Flur entlanggegangen, leise, um ihn nicht zu wecken. Erst als die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war, war er aufgestanden und nach unten gegangen. Es kam vor, dass sie nachts zu einem Patienten fahren musste. Er hatte ihre Bereitschaftsdienste nicht im Kopf. Mittlerweile war es kurz nach drei, und er stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Wer konnte ihm diesen Brief geschickt haben? Wer wusste von Schneewittchen und ihm und dem verlorenen Schlüsselbund? Herrje! Seine Karriere stand auf dem Spiel, sein Ansehen, sein ganzes Leben! Wenn dieser Brief oder ein ähnlicher in falsche Hände geriet, war er erledigt. Die Presse wartete doch nur auf einen fetten Skandal! Gregor Lauterbach wischte seine schweißfeuchten Handflächen am Bademantel ab. Er schenkte sich noch einen Whisky ein, einen dreifachen diesmal, und setzte sich auf das Sofa. Nur das Licht in der Eingangshalle brannte, im Wohnzimmer war es dunkel. Daniela konnte er nicht von dem Brief erzählen. Schon damals hätte er besser den Mund gehalten. Sie war es, die vor siebzehn Jahren dieses Haus gebaut und bezahlt hatte. Mit seinem schmalen Beamtensalär hätte er sich niemals eine solche Villa leisten können. Es hatte ihr Spaß gemacht, ihn, den kleinen Gymnasiallehrer, unter ihre Fittiche zu nehmen und ihn in die richtigen gesellschaftlichen und politischen Kreise einzuführen. Daniela war eine sehr gute Ärztin, in Königstein und Umgebung hatte sie viele wohlhabende und ausgesprochen einflussreiche Privatpatienten, die das politische Talent ihres Mannes erkannten und förderten. Gregor Lauterbach verdankte seiner Frau alles, das hatte er schmerzlich begreifen müssen, als sie ihm damals um ein Haar ihre Gunst und Unterstützung entzogen hätte. Seine Erleichterung, als sie ihm verziehen hatte, war unendlich gewesen. Mit ihren 58 Jahren sah sie noch blendend aus – eine Tatsache, die ihm ständig Sorgen bereitete. Auch wenn sie seit damals nie mehr miteinander geschlafen hatten, liebte er Daniela doch aus tiefstem Herzen. Alle anderen Frauen, die durch sein Leben und sein Bett huschten, waren unwichtige, rein körperliche Angelegenheiten. Er wollte Daniela nicht verlieren. Nein, er
durfte
sie nicht verlieren! Unter gar keinen Umständen. Sie wusste zu viel von ihm, sie kannte seine Schwächen, seine Minderwertigkeitskomplexe und die Anfälle quälender Versagensängste, die er mittlerweile im Griff hatte. Lauterbach fuhr zusammen, als sich der Schlüssel in der Haustür drehte. Er stand auf und schleppte sich in die Halle.
    »Du bist ja wach«, stellte seine Frau erstaunt fest. Sie sah ruhig und gelassen aus, wie immer, und er fühlte sich wie ein Seemann auf rauer See, der in der Ferne den rettenden Leuchtturm erblickt.
    Sie betrachtete ihn prüfend und schnupperte. »Du hast Alkohol getrunken. Ist etwas passiert?«
    Wie gut sie ihn kannte! Noch nie hatte er ihr etwas vormachen können. Er setzte sich auf die unterste Treppenstufe.
    »Ich kann nicht schlafen«, erwiderte er nur, sparte sich jede Begründung und Ausrede. Ganz plötzlich und mit einer Heftigkeit, die ihn erschreckte, sehnte er sich nach ihrer mütterlichen Liebe, nach ihrer Umarmung, ihrem Trost.
    »Ich gebe dir eine Lorazepam«, sagte sie.
    »Nein!« Gregor Lauterbach erhob sich, schwankte etwas und streckte die Hand nach ihr aus. »Ich will keine Tabletten nehmen. Ich will …«
    Er brach ab, als er ihren erstaunten Blick sah. Fühlte sich mit einem Mal kümmerlich und mickrig.
    »Was willst du?«, fragte sie leise.
    »Ich will heute Nacht nur einfach bei dir schlafen, Dani«, flüsterte er mit belegter Stimme. »Bitte.«
    Pia betrachtete die Frau, die ihr am Küchentisch gegenübersaß. Sie hatte Andrea Wagner mitgeteilt, dass die Rechtsmedizin die sterblichen Überreste ihrer Tochter Laura freigegeben hatte. Da die Mutter des toten Mädchens einen gefassten Eindruck gemacht hatte, stellte Pia ihr ein paar Fragen über Laura und deren Verhältnis zu Tobias Sartorius.
    »Warum möchten Sie das wissen?«, fragte Frau Wagner argwöhnisch.
    »Ich habe mich in den letzten Tagen ausführlich mit den alten Akten beschäftigt«, erwiderte Pia. »Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass etwas damals übersehen wurde. Als wir Tobias Sartorius gesagt haben, man hätte Laura gefunden, da hatte ich den Eindruck, dass er wirklich

Weitere Kostenlose Bücher