Schneewittchen muss sterben
ins Gesicht geschrieben.
»Es … es war ein Unfall«, stammelte er und hob hilflos die Hände. »Ich schwöre Ihnen, ich wollte das nicht. Ich … ich hab nur mit ihr reden wollen, wirklich!«
Pia holte tief Luft. Sie hatte also mit ihrer Vermutung, es könne eine Verbindung zwischen dem Angriff auf Rita Cramer und den Ereignissen aus dem Herbst 1997 geben, recht behalten.
»Aber … aber … als ich gehört hab, dass dieser … dieser dreckige Mörder raus ist aus'm Knast und wieder hier in Altenhain, da … da ist auf einmal alles wieder in mir hochgekommen. Ich dachte, die Rita, die kenn ich doch gut. Wir waren Freunde, früher. Ich wollte nur mit ihr reden, damit sie dafür sorgt, dass der Kerl hier verschwindet … aber dann ist sie vor mir weggelaufen … und sie hat nach mir geschlagen und getreten … und auf einmal … auf einmal war ich so wütend …« Er brach ab.
»Wusste Ihre Frau davon?«, wollte Pia wissen. Wagner schüttelte stumm den Kopf. Seine Schultern sackten nach vorne.
»Erst nicht. Aber dann hat sie das Foto gesehen.«
Natürlich hatte Andrea Wagner ihren Mann erkannt, so, wie ihn jeder Altenhainer erkannt hatte. Sie hatten geschwiegen, um ihn zu schützen. Er war einer der Ihren, ein Mann, der auf grausame Weise seine Tochter verloren hatte. Vielleicht hielten sie das Unglück, das er der Familie Sartorius zugefügt hatte, sogar für ausgleichende Gerechtigkeit.
»Dachten Sie, Sie kommen damit durch, nur weil das ganze Dorf Ihre Tat gedeckt hat?« Pias Mitgefühl mit Manfred Wagner war wie weggefegt.
»Nein«, flüsterte er. »Ich … ich wollte ja zur Polizei gehen.«
Plötzlich übermannten ihn Kummer und Zorn. Er ließ die Faust auf die Werkbank krachen. »Dieser dreckige Mörder hat seine Strafe abgesessen, aber meine Laura, die ist für immer tot! Als Rita mir nicht zuhören wollte, da hab ich plötzlich rotgesehen. Und das Geländer war so niedrig.«
Andrea Wagner stand mit vor der Brust verschränkten Armen und ausdrucksloser Miene im Hof und sah zu, wie zwei Polizeibeamte ihren Mann abführten. Der Blick, mit dem sie ihn streifte, sprach Bände. Zwischen den beiden war kein Rest von Zuneigung, geschweige denn Liebe mehr übrig. Was sie noch zusammenhielt, mochten die Kinder sein, die Pflichten des Alltags oder die Perspektivlosigkeit einer Trennung, aber nicht viel mehr. Andrea Wagner verachtete ihren Mann, der seine Sorgen und Probleme im Alkohol ertränkte, statt sich ihnen zu stellen. Pia empfand echtes Mitleid mit der leidgeprüften Frau. Die Zukunft der Familie Wagner sah nicht viel rosiger aus als die Vergangenheit. Sie wartete, bis der Streifenwagen den Hof verlassen hatte. Bodenstein war schon informiert und würde später auf dem Kommissariat mit Wagner sprechen.
Pia setzte sich in ihr Auto, schnallte sich an und wendete. Sie fuhr durch das kleine Gewerbegebiet, das hauptsächlich aus der Firma Terlinden bestand. Hinter einem hohen Zaun lagen auf einem weitläufigen Gelände große Werkshallen zwischen gepflegten Rasenflächen und Parkplätzen. Wollte man zum Hauptgebäude gelangen, einem großen, halbrunden Bau mit einer meterhohen gläsernen Front, musste man Schranken und ein Pförtnerhäuschen passieren. Mehrere Lkw warteten vor einer der Schranken auf Einlass, auf der anderen Seite wurde ein Lkw von Wachpersonal kontrolliert. Der Lkw hinter ihr hupte. Pia hatte schon den linken Blinker gesetzt, um auf die B519 nach Hofheim abzubiegen, doch dann entschloss sie sich zu einem kurzen Besuch bei Familie Sartorius und bog nach rechts ab.
Der Frühnebel hatte sich gelichtet und Platz für einen trockenen, sonnigen Tag gemacht, ein Hauch von Spätsommer mitten im November. Altenhain lag wie ausgestorben da, Pia sah lediglich eine junge Frau, die zwei Hunde spazieren führte, und einen alten Mann, der in der Einfahrt seines Hofes stand, die Arme auf das halbhohe Tor gelegt, im Gespräch mit einer älteren Frau. Sie fuhr am Schwarzen Ross mit seinem noch leeren Parkplatz und an der Kirche vorbei, folgte der scharfen Rechtskurve und musste bremsen, weil eine dicke, graue Katze in würdevoller Langsamkeit die schmale Straße überquerte. Vor der ehemaligen Gaststätte von Hartmut Sartorius stand ein silberner Porsche Cayenne mit Frankfurter Kennzeichen. Pia stellte ihr Auto daneben ab und betrat den Hof durch das weit geöffnete Tor. Von Müllbergen und Schrotthaufen war nichts mehr zu sehen, auch die Ratten hatten sich wohl in ergiebigere Gefilde verzogen.
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