Schneewittchen muss sterben
sei … er sei tot.«
Er biss sich auf die Lippen, senkte den Blick.
»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«
»Das bringt doch nichts. Es wird nie aufhören.« Der Mann schüttelte mit einer Mischung aus Resignation und Verzweiflung den Kopf. »Tobias bemüht sich, den Hof wieder einigermaßen herzurichten, und hofft, dass wir einen Käufer finden.«
»Herr Sartorius.« Pia hielt den Drohbrief noch immer in der Hand. »Ich kenne die Akten über den Fall Ihres Sohnes. Und mir sind einige Ungereimtheiten aufgefallen. Eigentlich wundert es mich, dass Tobias' Anwalt damals nicht in Revision gegangen ist.«
»Das wollte er ja, aber das Gericht hat eine Revision abgelehnt. Die Indizien, die Zeugenaussagen – alles war eindeutig.« Sartorius fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Alles an ihm strahlte Mutlosigkeit aus.
»Aber jetzt ist Lauras Leiche gefunden worden«, beharrte Pia. »Und ich frage mich, wie Ihr Sohn das tote Mädchen innerhalb einer knappen Dreiviertelstunde aus dem Haus in den Kofferraum seines Autos geschafft, nach Eschborn auf das abgesperrte Gelände eines ehemaligen Militärflughafens gebracht und in einen alten Bodentank geworfen haben soll.«
Hartmut Sartorius hob den Kopf und sah sie an. In seinen verschwommenen blauen Augen glomm ein winziger Hoffnungsfunke, der aber sofort wieder erlosch.
»Es nützt nichts. Es gibt keine neuen Beweise. Und selbst wenn, für die Leute hier ist er ein Mörder und wird es immer bleiben.«
»Vielleicht sollte Ihr Sohn Altenhain für eine Weile verlassen«, riet Pia. »Wenigstens bis nach der Beerdigung des Mädchens, wenn sich die Gemüter hier wieder einigermaßen beruhigt haben.«
»Und wo soll er hingehen? Wir haben kein Geld. Tobias wird so schnell keinen Job bekommen. Wer stellt schon einen Knacki ein, auch wenn der ein abgeschlossenes Studium hat?«
»Er könnte vorübergehend in die Wohnung seiner Mutter ziehen«, schlug Pia vor, aber Hartmut Sartorius schüttelte nur den Kopf.
»Tobias ist dreißig Jahre alt«, sagte er. »Es ist gut von Ihnen gemeint, aber ich kann ihm nichts befehlen.«
»Ich hatte gerade echt ein Dejá-vu, als ich euch beide auf der Bank gesehen habe.« Nadja schüttelte den Kopf. Tobias hatte sich wieder hingesetzt und betastete vorsichtig seine Nase. Die Erinnerung an die Todesangst, die er gestern Nacht empfunden hatte, lag wie ein düsterer Schatten über dem sonnigen Tag. Als die Männer endlich aufgehört hatten, auf ihn einzuschlagen, und verschwunden waren, hatte er mit dem Leben abgeschlossen. Wäre nicht einer von ihnen zurückgekehrt, um ihm den Lappen aus dem Mund zu ziehen, wäre er an dem Knebel erstickt. Sie hatten es wirklich ernst gemeint. Tobias fröstelte bei dem Gedanken daran, wie nah er dem Tod gewesen war. Die Verletzungen, die er davongetragen hatte, waren zwar schmerzhaft und sahen dramatisch aus, aber sie waren nicht lebensbedrohlich. Sein Vater hatte gestern Nacht noch Frau Dr. Lauterbach angerufen, und sie war sofort gekommen, um ihn zu verarzten. Sie hatte die Platzwunde an seiner Augenbraue geklammert und ihm Schmerztabletten dagelassen. Sie schien ihm nicht nachzutragen, dass er auch ihren Mann damals in den Prozess hineingezogen hatte.
»Findest du nicht?«, drang Nadjas Stimme in sein Bewusstsein.
»Was meinst du?«, fragte er. Sie war so schön und so besorgt. Eigentlich wurde sie zu Dreharbeiten in Hamburg erwartet, aber offenbar war er ihr wichtiger. Nach seinem Anruf von vorhin musste sie direkt losgefahren sein. Das zeichnete eine echte Freundin aus!
»Dass die Kleine eben Stefanie so ähnlich sieht. Unglaublich!«, sagte Nadja und ergriff seine Hand. Sie streichelte mit dem Daumen seinen Handballen, eine zärtliche Berührung, die ihm unter anderen Umständen vielleicht gefallen hätte. Jetzt aber störte sie ihn.
»Ja, unglaublich ist Amelie wirklich«, antwortete er versonnen. »Unglaublich mutig und unerschrocken.«
Er dachte daran, wie sie den Überfall im Hof weggesteckt hatte. Jedes andere Mädchen wäre in Tränen aufgelöst nach Hause oder zur Polizei gelaufen, nicht so Amelie. Was hatte sie ihm eben noch erzählen wollen? Was hatte Thies ihr gesagt?
»Gefällt sie dir?«, wollte Nadja wissen. Wäre er nicht so in Gedanken gewesen, hätte er vielleicht eine andere, diplomatischere Antwort gegeben.
»Ja«, antwortete er aber. »Ich mag sie. Sie ist so … anders.«
»Anders als wer? Als ich?«
Da blickte Tobias auf. Er begegnete ihrem konsternierten Blick,
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