Schneewittchen muss sterben
ahnungslos war. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich will damit nicht sagen, dass ich ihn für unschuldig halte.«
Andrea Wagner blickte sie aus stumpfen Augen an. Eine ganze Weile sagte sie gar nichts.
»Ich habe aufgehört, über all das nachzudenken«, sagte sie dann. »Es ist schwer genug, vor den Augen des ganzen Dorfes immer weiterzumachen. Meine anderen beiden Kinder mussten im Schatten ihrer toten Schwester aufwachsen, ich habe alle Kraft gebraucht, damit sie eine einigermaßen normale Kindheit hatten. Aber das ist nicht einfach mit einem Vater, der sich jeden Abend im Schwarzen Ross bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt, weil er nicht akzeptieren will, was geschehen ist.«
Das klang nicht bitter, es war die Feststellung einer Tatsache.
»Ich lasse das Thema nicht mehr an mich ran. Sonst wäre hier schon längst alles in die Binsen gegangen.« Sie wies mit einer Handbewegung auf einen Stapel Papier auf dem Tisch. »Unbezahlte Rechnungen, Mahnungen. Ich gehe im Supermarkt in Bad Soden arbeiten, damit das Haus und die Schreinerei nicht zwangsversteigert werden oder wir in die gleiche Lage kommen wie der Sartorius. Irgendwie muss es ja weitergehen. Ich kann mir nicht leisten, in der Vergangenheit zu leben, wie mein Mann das tut.«
Pia sagte nichts. Nicht zum ersten Mal erlebte sie, wie ein schreckliches Ereignis das Leben einer ganzen Familie komplett aus der Bahn werfen und für immer zerstören konnte. Wie stark mussten Menschen wie Andrea Wagner sein, um Morgen für Morgen aufzustehen und weiterzumachen, ohne Hoffnung auf Besserung? Gab es im Leben dieser Frau überhaupt noch irgendetwas, was sie freute?
»Ich kenne Tobias seit seiner Geburt«, fuhr Andrea Wagner fort. »Wir waren mit der Familie befreundet, wie mit allen Leuten hier im Dorf. Mein Mann war Wehrführer bei der Feuerwehr, Jugendtrainer im Sportverein, Tobias war sein bester Stürmer. Manfred war immer sehr stolz auf ihn.« Ein Lächeln huschte über ihr blasses, abgehärmtes Gesicht, erlosch aber sofort wieder. Sie seufzte. »Keiner hätte ihm so was zugetraut, ich erst auch nicht. Aber man kann einem Menschen eben nur vor die Stirn gucken, nicht wahr?«
»Ja, damit haben Sie wohl recht.« Pia nickte bestätigend. Die Familie Wagner hatte weiß Gott genug Schlimmes erlebt, sie wollte nicht weiter in alten Wunden stochern. Eigentlich hatte sie auch überhaupt keine Grundlage, um Fragen zu einem längst aufgeklärten Fall zu stellen. Da war eben nur dieses undeutliche Gefühl.
Sie verabschiedete sich von Frau Wagner, verließ das Haus und ging über den verwahrlosten Hof hinüber zu ihrem Auto. Aus dem Innern der Werkstatt drang das kreischende Geräusch einer Säge an ihr Ohr. Pia hielt inne, dann machte sie kehrt und öffnete die Tür der Schreinerei. Es war nur fair, wenn sie auch Manfred Wagner mitteilte, dass er in Kürze seine Tochter zu Grabe tragen und damit einen Schlussstrich unter ein entsetzliches Kapitel ziehen konnte. Vielleicht würde er irgendwie wieder Fuß fassen können im Leben. Er stand mit dem Rücken zu ihr an einer Werkbank und schob ein Brett durch eine Bandsäge. Als er die Maschine abstellte, machte Pia sich bemerkbar. Der Mann trug keine Ohrenschützer, nur eine schmuddelige Baseballkappe, und in seinem Mundwinkel hing ein erloschener Zigarillo. Er streifte sie nur mit einem unfreundlichen Blick und bückte sich nach einem weiteren Brett, wobei seine verbeulte Hose herunterrutschte und Pia die unschöne Aussicht auf den haarigen Ansatz seines verlängerten Rückens präsentierte.
»Was wollen Sie?«, nuschelte er. »Ich hab zu tun.«
Er hatte sich seit ihrer letzten Begegnung nicht mehr rasiert, seine Kleidung verströmte den scharfen Geruch von altem Schweiß. Pia schauderte und machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Wie musste es sein, tagein, tagaus mit einem solch ungepflegten Mann zusammenleben zu müssen? Ihr Mitgefühl mit Andrea Wagner wuchs.
»Herr Wagner, ich war gerade bei Ihrer Frau, aber ich wollte es auch Ihnen persönlich sagen«, begann Pia.
Wagner richtete sich auf und wandte sich zu ihr um.
»Die Rechtsmedizin hat …« Pia verstummte. Die Baseballkappe! Der Bart! Es gab keinen Zweifel. Vor ihr stand der Mann, den sie mit dem Foto aus dem Film der Überwachungskamera suchten.
»Was?« Er starrte sie mit einer Mischung aus Aggressivität und Gleichgültigkeit an, doch dann wurde er blass, als habe er Pias Gedanken gelesen. Er wich zurück, das schlechte Gewissen stand ihm
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