Schneewittchen-Party
Sie gerade gesprochen haben? Mrs Drakes Tante – «
»Ja. Sie hatte mehrere Mädchen in dieser Stellung – zwei weitere Ausländerinnen, glaube ich; mit der einen bekam sie fast auf der Stelle Streit, und die andere war zwar nett, aber entsetzlich dumm. Und Mrs Levin-Smith hatte nicht viel Geduld mit dummen Menschen. Olga, ihr letzter Versuch, schien dann genau das Richtige zu sein. Sie war, wenn ich mich recht erinnere, kein besonders attraktives Mädchen«, sagte Mr Fullerton. »Sie war klein, ziemlich untersetzt, hatte eine mürrische Art und war in der Nachbarschaft nicht sehr beliebt.«
»Aber Mrs Levin-Smith mochte sie«, meinte Poirot.
»Sie wurde ihr sehr zugetan – unseligerweise, scheint es.«
»Ah so.«
»Zweifellos«, sagte Mr Fullerton, »sage ich Ihnen nichts, was Sie nicht schon gehört haben. Wie ich schon sagte, so etwas breitet sich aus wie ein Waldbrand.«
»Ich habe gehört, dass Mrs Levin-Smith dem Mädchen eine große Geldsumme hinterlassen hat.«
»Ja, eine ganz erstaunliche Sache«, sagte Mr Fullerton. »Mrs Levin-Smith hatte ihre grundsätzlichen testamentarischen Bestimmungen seit Jahren nicht geändert, außer dass sie einige Stiftungen hinzufügte und Legate änderte, die durch Todesfall ungültig geworden waren. Vielleicht erzähle ich Ihnen ja, was Sie längst wissen. Ihr Geld war immer für ihren Neffen, Hugo Drake, und seine Frau bestimmt, die gleichzeitig seine Kusine und also eine Nichte von Mrs Levin-Smith war. Wenn einer von ihnen vor ihr sterben sollte, ging das Geld an den Überlebenden. Aber das, was dann angeblich ihr letzter Wille war, wurde drei Wochen vor ihrem Tod geschrieben und nicht wie bisher von unserer Firma aufgesetzt. Es war ein Kodizill in ihrer eigenen Handschrift. Ein paar Stiftungen waren darin – nicht so viele wie vorher –, die Dienerschaft bekam überhaupt keine Legate, und der gesamte Rest ihres nicht unbeträchtlichen Vermögens ging an Olga Seminoff als Dank für ihre treuen Dienste und die Liebe, die sie ihr erwiesen hatte. Eine erstaunliche Bestimmung, die so völlig im Gegensatz zu dem stand, was Mrs Lewin-Smith bis dahin getan hatte.«
»Und dann?«, fragte Poirot.
»Sie haben wahrscheinlich von den Ermittlungen gehört. Handschriftenexperten konnten eindeutig nachweisen, dass das Kodizill eine Fälschung war. Es hatte nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Mrs Levin-Smith’ Handschrift, mehr nicht. Mrs Levin-Smith hatte etwas gegen maschinengeschriebene Briefe und hatte Olga öfter ihre persönlichen Briefe schreiben lassen und ihr aufgetragen, so weit wie möglich, ihre Handschrift zu kopieren. Manchmal hatte sie Olga sogar die Briefe unterschreiben lassen. Sie hatte also Übung. Offensichtlich ist das Mädchen dann, als Mrs Levin-Smith tot war, einen Schritt weiter gegangen und hat gedacht, man würde die Fälschung nicht merken und die Handschrift als die ihrer Arbeitgeberin akzeptieren. Aber bei Experten kommt man da nicht weit. Nein, wirklich nicht.«
»Und es wurden bereits Schritte eingeleitet, um das Testament anzufechten?«
»Ja. Natürlich verzögerte sich das Ganze noch, ehe es vor Gericht kommen konnte, wie das bei gerichtlichen Dingen üblich ist. Und währenddessen verlor die junge Dame die Nerven und – nun ja, Sie sagten es ja eben: sie verschwand.«
13
N achdem Hercule Poirot sich verabschiedet hatte und gegangen war, blieb Jeremy Fullerton noch an seinem Schreibtisch sitzen. Seine Finger trommelten leise auf der Tischplatte, sein Blick ging gedankenverloren ins Leere.
Er ergriff ein Papier, das vor ihm lag, und senkte seine Augen darauf, aber ohne etwas zu sehen. Seine Gedanken waren in der Vergangenheit. Zwei Jahre – fast zwei Jahre war es her –, und dieser seltsame kleine Mann mit seinen Lackschuhen und seinem großen Schnurrbart hatte mit seinen Fragen alles wieder zurückgebracht.
Jetzt erlebte er in Gedanken noch einmal eine Unterhaltung, die er vor fast zwei Jahren geführt hatte.
In dem Stuhl gegenüber sah er noch einmal ein Mädchen, klein, untersetzt – die olivbraune Haut, den dunkelroten, großen Mund, die vorstehenden Backenknochen und die Wildheit, mit der ihn ihre blauen Augen unter schweren schwarzen Augenbrauen hervor ansahen. Ein leidenschaftliches Gesicht, vital, ein Gesicht, das Leid kennen gelernt hatte – wahrscheinlich nie ohne Leid sein würde –, aber niemals lernen würde, Leid hinzunehmen. Eine Frau, die bis zum Schluss kämpfen und protestieren würde. Wo mochte sie jetzt
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