Schneewittchen-Party
sein? Auf irgendeine Weise war es ihr gelungen – was eigentlich war ihr gelungen? Wer hatte ihr geholfen? Hatte ihr überhaupt jemand geholfen? Jemand musste es getan haben.
Jeremy Fullerton war ein Verteidiger des Gesetzes. Er glaubte an das Gesetz und verachtete die modernen Richter mit ihren milden Strafen und ihrer Einsicht in psychologische Erkenntnisse. Und doch – trotz seines tief wurzelnden Glaubens an die gerechte Anwendung des Gesetzes war Fullerton ein Mann, der Mitleid haben konnte. Er konnte mit den Menschen fühlen. Er konnte auch mit Olga Seminoff fühlen, und sie tat ihm leid, obgleich ihn ihre leidenschaftlich vorgebrachten Argumente völlig unberührt ließen.
»Ich bin um Hilfe zu Ihnen gekommen. Ich dachte, Sie helfen mir. Sie waren voriges Jahr gut zu mir. Sie haben mir mit den Formularen geholfen, damit ich noch ein Jahr in England bleiben konnte.«
»Die Umstände, die Sie hier als Beispiel anführen« – und Mr Fullerton erinnerte sich, wie trocken und kalt er das gesagt hatte, noch trockener und kälter wegen des Mitleids, das hinter seinen Worten lag –, »treffen jetzt nicht zu. In diesem Falle bin ich nicht in der Lage, Ihnen Rechtsbeistand zu leisten. Ich vertrete bereits die Familie Drake. Wie Sie wissen, war ich Mrs Levin-Smith’ Rechtsanwalt.«
»Aber sie ist tot. Sie braucht keinen Anwalt, wenn sie tot ist.«
»Sie mochte Sie sehr gern«, sagte Mr Fullerton.
»Ja, das tat sie. Das sage ich ja. Deswegen wollte sie mir das Geld geben.«
»All ihr Geld?«
»Warum nicht? Warum nicht? Sie mochte ihre Verwandten nicht.«
»Das stimmt nicht. Sie hatte ihre Nichte und ihren Neffen sehr gern.«
»Na gut, vielleicht hat sie Mr Drake gemocht, aber Mrs Drake mochte sie nicht. Sie ging ihr auf die Nerven. Mrs Drake mischte sich in alles ein. Sie ließ Mrs Levin-Smith nicht tun, was sie wollte. Sie ließ sie nicht essen, was sie wollte.«
»Mrs Drake ist eine sehr gewissenhafte Frau, und sie hat versucht, ihre Tante dazu zu bewegen, die Anordnungen des Arztes zu befolgen.«
»Die Menschen wollen die Anordnungen des Arztes nicht immer befolgen. Sie wollen nicht immerzu von Verwandten gegängelt werden. Sie wollen ihr eigenes Leben leben und tun, was sie wollen, und haben, was sie wollen. Sie hatte eine Menge Geld. Sie konnte haben, was sie wollte! Sie konnte alles haben, was ihr gefiel. Sie war reich – reich – reich, und sie konnte mit ihrem Geld machen, was sie wollte. Mr und Mrs Drake haben schon genug Geld. Sie haben ein schönes Haus und Kleider und zwei Autos. Sie sind sehr wohlhabend. Warum sollen sie noch mehr haben?«
»Es sind ihre einzigen lebenden Angehörigen.«
»Sie wollte, dass ich das Geld bekomme. Ich tat ihr leid. Sie wusste, was ich durchgemacht hatte. Sie wusste von meinem Vater, wie er verhaftet und von der Polizei weggeschafft wurde. Meine Mutter und ich, wir haben ihn nie wiedergesehen. Und dann meine Mutter, und wie sie gestorben ist. Meine ganze Familie ist tot. Was ich durchgemacht habe, ist entsetzlich. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man in einem Polizeistaat lebt. Nein, nein. Sie sind auf der Seite der Polizei. Sie sind nicht auf meiner Seite.«
»Nein«, sagte Mr Fullerton, »ich bin nicht auf Ihrer Seite. Es tut mir sehr leid, dass Sie das alles durchmachen mussten, aber an Ihren jetzigen Schwierigkeiten sind Sie selbst schuld.«
»Das ist nicht wahr! Es stimmt nicht, dass ich etwas getan habe, was ich nicht tun sollte. Was habe ich denn getan? Ich war gut zu ihr, ich war nett zu ihr. Ich habe ihr lauter Sachen gebracht, die sie nicht essen durfte. Schokolade und Butter. Immer nur Pflanzenfette. Sie mochte Pflanzenfette nicht. Sie wollte Butter haben. Sie wollte viel Butter haben.«
»Es geht hier nicht nur um Butter«, sagte Mr Fullerton.
»Ich habe für sie gesorgt, ich war nett zu ihr! Und sie war dankbar. Und jetzt, wo sie tot ist und ich herausfinde, dass sie in ihrer Güte und ihrer Zuneigung ein unterschriebenes Papier hinterlassen hat und ich ihr ganzes Geld bekommen soll, da kommen diese Drakes und sagen, dass ich es nicht haben soll. Sie sagen alles Mögliche. Dass ich einen schlechten Einfluss auf sie hatte. Und dann sagen sie noch Schlimmeres. Viel Schlimmeres. Sie sagen, dass ich das Testament geschrieben habe. Das ist Unsinn. Sie hat es geschrieben. Sie hat es geschrieben. Und dann hat sie mich aus dem Zimmer geschickt. Sie hat die Putzfrau und Jim, den Gärtner, kommen lassen. Sie hat gesagt, sie müssen unterschreiben,
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