Schneewittchen-Party
es ist jemand etwas passiert?«
»Ja, aber ich weiß nicht genau, was. Jedenfalls hat Tim Raglan angerufen und ihn gebeten zu kommen. Ich mach Ihnen eine Tasse Tee, ja?«
»Nein«, sagte Poirot, »vielen Dank, aber ich glaube – ich glaube, ich gehe nachhause.« Die Aussicht auf schwarzen, bitteren Tee konnte er jetzt nicht ertragen. Und ihm fiel auch gleich eine gute Entschuldigung ein. »Meine Füße«, erklärte er. »Meine Füße. Ich habe fürs Land nicht die richtigen Schuhe an. Ein Schuhwechsel dürfte wünschenswert sein.«
Elspeth McKay sah hinunter auf seine Schuhe. »Nein«, sagte sie, »es sind wirklich nicht die richtigen. In Lackleder schwellen die Füße leicht. Übrigens ist ein Brief für Sie hier. Ausländische Marken drauf. Ich hole ihn.«
Sie kam in einer Minute zurück und gab ihm den Brief.
»Wenn Sie den Umschlag nicht mehr brauchen, würde ich ihn gern für einen meiner Neffen haben – er sammelt Marken.«
»Natürlich.« Poirot öffnete den Brief und gab ihr den Umschlag. Sie dankte ihm und ging wieder zurück ins Haus. Poirot faltete den Bogen auseinander und las.
Mr Gobys Auslandsdienst arbeitete genauso gut wie der fürs Inland. Er scheute keine Ausgaben und erzielte schnelle Ergebnisse.
Gewiss, es waren keine welterschütternden Ergebnisse – aber damit hatte Poirot auch nicht gerechnet.
Olga Seminoff war nicht in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Ihre Familie lebte nicht mehr. Sie hatte eine Freundin gehabt, eine ältere Frau, mit der sie sporadisch korrespondiert und der sie über ihr Leben in England berichtet hatte. Sie hatte sich mit ihrer Arbeitgeberin gut verstanden, die gelegentlich schwierig, aber auch großzügig gewesen war.
Die letzten Briefe von Olga waren vor etwa anderthalb Jahren gekommen. Darin hatte sie einen jungen Mann erwähnt. Sie hatte angedeutet, dass sie an Heirat dächten, aber der junge Mann, dessen Namen sie nicht erwähnte, stehe erst am Anfang seiner beruflichen Laufbahn, so hatte sie geschrieben, und so sei noch nichts entschieden. In ihrem letzten Brief schrieb sie sehr glücklich, dass ihre Aussichten für die Zukunft gut seien. Als dann keine Briefe mehr kamen, nahm die Freundin an, dass Olga ihren Engländer geheiratet und ihre Adresse geändert habe. Das taten die Mädchen öfter, wenn sie nach England gingen. Wenn sie glücklich verheiratet waren, schrieben sie oft nie wieder.
Sie hatte sich keine Gedanken gemacht.
Das passte, dachte Poirot. Lesley hatte von Heirat gesprochen, es aber vielleicht nicht ernst gemeint. Mrs Levin-Smith war als ›großzügig‹ bezeichnet worden. Lesley hatte von jemand Geld bekommen, von Olga vielleicht (Geld, das ihr ursprünglich von ihrer Arbeitgeberin gegeben worden war), damit er ein Dokument zu ihren Gunsten fälschte.
Elspeth McKay kam zurück auf die Veranda. Poirot fragte sie, was sie von seiner Vermutung halte, dass Lesley und Olga Beziehungen hatten.
Sie überlegte einen Augenblick. Dann sprach das Orakel.
»Wenn’s stimmt, haben sie sich aber sehr in Acht genommen. Ich habe nie irgendein Gerücht über die beiden gehört. Üblicherweise gibt’s in einem Dorf wie unserm sofort Gerede.«
»Ferrier hatte ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Er kann ja das Mädchen gewarnt haben, ihrer Arbeitgeberin nichts von ihm zu erzählen.«
»Wahrscheinlich. Mrs Levin-Smith hätte wahrscheinlich gewusst, dass Lesley Ferrier Dreck am Stecken hatte, und hätte das Mädchen vielleicht vor ihm gewarnt.«
Poirot faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
»Ich würde Ihnen so gern eine Kanne Tee aufbrühen.«
»Nein, nein – ich muss zurück in meine Pension und meine Schuhe wechseln. Sie wissen nicht, wann Ihr Bruder wieder da ist?«
»Ich habe keine Ahnung. Sie haben nicht gesagt, warum sie ihn gerufen haben.«
Poirot ging zurück zu seiner Pension. Es waren nur ein paar hundert Meter. Als er auf die Haustür zuging, wurde diese von seiner Pensionswirtin geöffnet, einer freundlichen Frau von dreißig Jahren.
»Es ist eine Dame für Sie da«, sagte sie. »Sie wartet schon eine ganze Weile. Ich hab ihr gesagt, dass ich nicht genau weiß, wo Sie hingegangen sind oder wann Sie wieder zurückkommen, aber sie hat gesagt, sie will warten.« Sie fügte hinzu: »Es ist Mrs Drake. Sie ist völlig aufgelöst. Sie ist doch sonst immer so ruhig, aber ich glaube, sie hat einen Schock gehabt. Sie ist im Wohnzimmer. Soll ich Ihnen Tee bringen?«
»Nein«, sagte Poirot, »ich glaube, lieber
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