Schneewittchens Tod
gehorchte nur widerwillig, fast nervös. So, als würde ihn sein Instinkt warnen, auf keinen Fall dem Haus den Rücken zuzukehren. Der Anblick der tiefen Kerbe in dem Gusseisen jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken.
»Gut«, hörte er Gaelles Stimme im Rücken, »warte, ich messe.«
»Was denn?«
»Die Höhe, wenn du so dasitzt. Die Kugel hat dich dicht unter dem linken Ohr getroffen. Wenn Annabelle geschossen hätte, dann von unten nach oben, klar? Wenn er gekniet hätte, wäre es das Gleiche. Also stand der Kerl. Hielt das Gewehr ein bisschen geneigt.«
»Ist ja unerhört spannend.«
»Klappe. In Anbetracht des Schusswinkels muss er fünfundvierzig Grad rechts von dir gestanden haben .«
»Trägt er thermodynamische Socken?«
»Hat schon jemand nach der Patronenhülse gesucht?«
Chib erhob sich.
»Hülsen dieser Gewehrart, mein Kind, werden nicht automatisch ausgeworfen.«
»Danke, Professor, doch ich denke, also zweifele ich. Man kann ja nie wissen .«
Es folgte eine ebenso gewissenhafte wie erfolglose Suche im Kies. Anschließend wollte Gaelle den Weg, der ums Haus führte, unter die Lupe nehmen, dann den Werkzeugschuppen, die Schubkarre, in der der aufgeschlitzte Welpe gefunden worden war, die Blumenbeete und schließlich den Rasen, der gemäht gehört hätte, wie Chib fand, als er plötzlich wieder das Bild des leblosen Costa, ausgestreckt im Gras, vor seinem geistigen Auge sah. Sie fanden weder die Patronenhülse noch das Gewehr irgendwo im Laub versteckt, noch ein Foto mit einer Widmung des Schützen unter dem vierten Stein von rechts. Erschöpft ließ sich Chib auf einer der Liegen am Pool nieder und sah, ohne wirklich zu sehen, in das türkis schimmernde Wasser, in dem Ratten trieben.
Ratten? Er kniff sich in den Nasenrücken. Keine Lust, sich diese Ratten aus der Nähe anzusehen. Keine Lust, sich vorzustellen, dass das Anwesen von Ratten mit roten Augen bevölkert wurde, die sich im Schatten der Büsche verbargen. Doch natürlich erhob er sich, trat an den Beckenrand. Vier kleine Fellkugeln trieben faul auf der Oberfläche. Er griff nach der Metallstange, die gleich neben ihm lag, und fing eine in dem Netz auf. Er zog das Netz zu sich heran. Spürte, wie die vertraute Übelkeit seinen Mund mit Säure füllte. Es waren natürlich keine Ratten, sondern Kätzchen. Vier getigerte Kätzchen. Die Augen herausgeschält. Er fischte sie alle aus dem Wasser und legte sie auf den rosafarbenen Sandstein. Keine sichtbaren tödlichen Verletzungen. Man hatte sie wohl erstickt oder ihnen das Genick gebrochen. Oder sie einfach in den Pool geworfen, nachdem man ihnen die Augen herausgerissen hatte.
Er wandte sich ab und atmete tief aus, um den Stress loszuwerden, ohne großen Erfolg. Ihm war schwindelig. Er verweilte einen Moment, den Blick auf die frisch erblühten Schlüsselblumen geheftet. Richtete ihn wieder auf die Kätzchen, die jetzt jedes in einer Pfütze lagen, kleine, schlaffe Häufchen Fell, aufgeweicht, die Lefzen hochgezogen, steif vom Tod, die Augenhöhlen leer und schwarz.
Gaelle hatte Recht, die Dinge beschleunigten sich, dachte er, als er hinter sich ihre Schritte vernahm. »Was hast du denn …?«, begann sie und stieß dann einen kleinen erstaunten Schrei aus.
»Ganz offensichtlich respektiert er nicht mal die Sonntagsruhe«, sagte Chib.
Sie beugte sich über die kleinen, gemarterten Körper, berührte einen mit der Fingerspitze.
»Wir müssen ihn finden, Chib.«
»Ich weiß.«
Er ging zur Schubkarre, kam mit einem Müllsack zurück, warf die Kätzchen hinein, obwohl es ihn ekelte, sie anzufassen.
»Das müssen die Mädchen ja nicht unbedingt sehen.«
Gaelle legte die Hand auf seinen Unterarm.
»Er lebt hier. Es ist einer von ihnen. Oder er lebt versteckt auf dem Anwesen.«
»Es könnte auch einer der Nachbarn sein«, erwiderte Chib mit dem entmutigenden Gefühl, zum tausendsten Mal dasselbe zu faseln.
»Ans Werk, Leute . He, was macht ihr denn für lange Gesichter!«
Greg sah sie an, die Hände in die Hüften gestemmt, das Haar klitschnass, als käme er gerade aus der Dusche.
»Du hast dein Hemd falsch zugeknöpft«, sagte Gaelle.
»Wie? Ach so. Also, was ist los? Habt ihr den Werwolf gesehen, oder was?«
Chib öffnete den Müllsack. Greg beugte sich vorsichtig darüber.
»Pfui Teufel, was ist denn das!?«, fluchte er und wich zurück.
»Die letzte Farce des Werwolfs«, sagte Chib müde.
»Aicha meinte, Sie seien hier«, rief Andrieu, der in diesem Moment
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