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Schneewittchens Tod

Schneewittchens Tod

Titel: Schneewittchens Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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zog seine Jacke aus. Ein Sperling begrüßte ihn freudig. Falsch, Chib, er begrüßt nicht dich. Er warnt nur seine Artgenossen, dass das Territorium besetzt ist, dass dieses Weibchen ihm gehört und dass er, wenn man Streit mit ihm sucht, bereit ist zu kämpfen. Wie Andrieu, zum Beispiel, wenn er liebenswürdig von seiner Frau sprach.
    Außer Atem erreichte er das Tor und hatte den Eindruck, seine Wunde würde wieder bluten. Ihm war schwindelig, und er spürte das Blut in seiner Halsader pochen, das war unangenehm.
    Er klingelte. Er fühlte sich drei Tage zurückversetzt, als er gekommen war, um Costa zu suchen. Dasselbe Licht, derselbe leichte Wind. Aicha öffnete ihm in Begleitung von Eunice und Bunny. Sie blinzelte, als sie ihn sah.
    »Ich komme den Floride abholen«, sagte Chib.
    »Gaelle hat gesagt, sie käme heute Abend bei dir vorbei. Hast du starke Schmerzen?«
    »Nein, es geht. Ich will jetzt nach Hause, ein Bad nehmen und mich hinlegen. Und hier?«
    »Nichts Besonderes.«
    »Maman macht Heia«, sagte Eunice. »Das ist ga' nicht lustig.«
    Er warf Aicha einen fragenden Blick zu.
    »Es geht ihr nicht sehr gut, nein. Anscheinend ein Rückfall. Sie isst nichts mehr.«
    Ein kleiner Stich im Solar Plexus. War es möglich, dass Sie sich Sorgen um ihn machte?
    »Ist sie da?«
    »Ja, und er auch«, entgegnete Aicha, die Betonung lag auf er.
    »Okay, ich komme morgen wieder vorbei.«
    »Hörst du denn nicht auf?«
    »Nein. Ich kann nicht.«
    »Du bist wirklich verrückt!«
    »E' ist ve'ückt?«, wiederholte Eunice entzückt.
    »Nein, mein Liebling, das ist nur ein Scherz, sonst nichts.«
    »E' ist ve'ückt, e' ist ve'ückt!«
    Chib stieg in den Floride, während Aicha die kichernde Eunice zurechtwies. Wenn er Vollgas geben und das Lenkrad geradeaus halten würde, würde er den hübschen Wintergarten demolieren. Er brauchte nur die Handbremse zu lösen und aufs Gaspedal zu treten. Er schlug ein und fuhr winkend auf die Straße. Das Tor  schloss sich vor Eunice, die lachend davon lief, gefolgt von Aicha.
    Schweißgebadet kam er zu Hause an, sein Hals schmerzte, und seine Kehle war trocken. Er ließ sich auf den Futon fallen wie ein auf seinem vertrauten Felsen gelandeter Seehund mit hängenden Lefzen. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich bis zum Kühlschrank zu schleppen und ein Bier zu holen. Bei der Vorstellung, dass man wirklich auf ihn geschossen hatte, fröstelte er plötzlich, und ihm wurde kalt. Er legte das Kopfkissen auf seinen Bauch. Liebe, er brauchte Liebe wie ein Kind, verdammt noch mal, das war doch alles gar nicht möglich, nicht möglich, dieses plötzliche wilde Durcheinander in seinem Leben, fass dich wieder, sei ein Mann! Hör auf zu frieren, hör auf zu schwitzen, hör auf zu zittern, hör auf zu lieben!
    Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Fantasien, und er stürzte sich auf den Hörer. Es war nur Gaelle, die beunruhigt war und sagte, sie käme so schnell wie möglich, aber sie müsste erst ihre Zwischenprüfung in Toxikologie ablegen.
    Den Rest des Nachmittags verbrachte er damit, die Ereignisse der letzten zwei Wochen hundertmal wiederzukäuen, sich vorzustellen, was hätte sein können und nicht gewesen war oder anders hätte werden können, wenn … und wenn … Er analysierte die Gesichter der Protagonisten vor seinem geistigen Auge, als verfügte er über einen geistigen Zoom, um die Quintessenz herauszukristallisieren, stellte sich Orte und Szenerie vor, hörte sich noch einmal die Gespräche an, ließ die Bilder zurückspulen und stoppte immer wieder, ohne dass alles einen neuen Sinn ergab. Dabei musste es zwangsläufig eine Leitlinie geben. Einen Plan. Ein Ziel. Einen Kopf hinter den Taten. Denn die Dinge waren organisiert, also inszeniert. Man hatte es nicht mit einem Kranken zu tun, der ebenso plötzlichen wie unkontrollierbaren Impulsen unterlag. Denn ein Kopf, der fähig war zu organisieren, besaß auch die Fähigkeit zur Verschleierung, zur Lüge. Wenn doch unsere Gefühle unsere  Haut färben würden, sagte er sich, grün für Angst, blau für Freude, gelb für Nachdenken, rot für Verlangen. Toll, Chib, da sähest du super aus, ziegelrot, jedes Mal, wenn du eine Frau siehst, deren Pheromone dich anmachen. War vielleicht doch besser, dass sich die Gefühle diskret unter unserer Haut oder unserer Kleidung verkrochen, Schweißdrüsen, aufgestelltes Körperhaar, beschleunigter Puls, Erröten, Schwitzen, Erektion, nichts, was sich nicht mit etwas Stoff oder Make-up

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