Schneewittchens Tod
blätterte verschiedene Zeitschriften durch, die auf dem niedrigen Glastisch lagen. Le Revenu, Valeurs Actuelles/Capital, La Croix, Maisons et Jardins … Er war eben dabei, sich zu fragen, ob er seinen Loft orangerot streichen sollte, als die Tür aufging und ein bärtiger Fünfzigjähriger in weißem Kittel auf der Schwelle erschien und ihn bat einzutreten.
Das Sprechzimmer war genauso nüchtern eingerichtet wie das Wartezimmer. Zwei Reproduktionen von Kandinsky an der linken Wand, eine von Chagall an der rechten, ein Schreibtisch aus Glas und Chrom, darauf nur ein Notizblock und ein MontBlanc-Kugelschreiber.
»Setzen Sie sich. Was führt Sie her?«
»Schmerzen in der rechten Hand, sie wird leicht steif. Madame Andrieu hat mir Ihre Adresse gegeben«, fügte er hinzu und gab vor, den Chagall zu bewundern, obwohl ihm die Malkunst völlig gleichgültig war.
»Blanche?«, sagte Dr. Cordier und zog eine graue Braue hoch. »Sie kennen die Andrieus?«, fuhr er fort, griff nach Chibs Handgelenk und ließ es vorsichtig kreisen.
»Ich hatte unlängst Gelegenheit, ihre Bekanntschaft zu machen. Mit diesem Drama .«
»Ach, Sie wissen davon. Schrecklich, nicht wahr, wie das Schicksal einem doch übel mitspielen kann! Heben Sie den Arm, so . Tut das weh?«
»Ein bisschen. Wissen Sie, ich bin Präparator, ich werde die Konservierung vornehmen. Ich brauche übrigens Ihre Unterschrift unter das gerichtsmedizinische Gutachten.«
»Kein Problem. Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen. Mein Job ist schon nicht besonders lustig, aber Ihrer . Tief einatmen, bitte.«
»Ja, grausam, solche Sachen. Und die Eltern werfen sich bestimmt jeden Tag vor, nicht genug aufgepasst zu haben.«
»Hm. Ein Sturz auf der Treppe … ich wüsste nicht, wie sie das hätten verhindern können, außer ihr zu verbieten zu leben!«
»Bei besonders wilden Kindern muss man immer auf der Hut sein, das ist anstrengend.«
»Nun, Elilou war nicht besonders wild. Das war nicht ihr Tag, das ist alles. Gut, wir werden eine Röntgenaufnahme machen, für alle Fälle.«
»Ich bin letztes Jahr beim Skifahren gestürzt, ich hatte zwei Wochen Schmerzen. Meinen Sie, es könnte sich um einen Bruch handeln, den man nicht erkannt hat?«
»Wohl kaum. Einen Bruch hätten Sie bemerkt. Eher eine Verrenkung.«
Kurz darauf verließ er die Praxis mit dem gegengezeichneten Zertifikat, das bestätigte, dass Elilou keine schwere ansteckende Krankheit gehabt hatte, die ein Verbot seiner Arbeit an der Toten bedeutet hätte. Sein Besuch war also nicht völlig sinnlos gewesen.
Die Terrasse des Taj war überfüllt. Greg, der natürlich am besten Tisch saß, nippte an seinem Whisky und lächelte in die Runde. Er winkte den eintretenden Chib herbei, als bestünde die Gefahr, dass er anderswo Platz nähme.
Kaum saß er, drückte Greg ihm schon die Menükarte in die Hand, »Ich sterbe vor Hunger«, kritisierte sein graues Hemd: »Sieht aus, als käme es von Woolworth«, und meckerte, dass er keinen Aperitif nehmen wollte. Chib überhörte das alles und vertiefte sich in die Karte, während Greg sich ausgiebig über ihre Nachbarinnen ausließ.
»Ich nehme das Prawn Tadori«, beschloss Chib.
Er hatte eine Vorliebe für kräftig gewürzte Garnelen. Greg entschied sich für ein Biryani »da hat man wenigstens was auf dem Teller«, bestellte eine Flasche Chateauneuf-du-Pape und verlangte nach Chips und Oliven. Der Kellner nickte höflich, den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.
Peinlich berührt, wie jedes Mal, wenn Greg seine Nummer abzog, schaute Chib auf den Spiegel in der Ecke. Ein schwarzer Haarschopf in einer benachbarten Nische lenkte seinen Blick auf sich. Eine braune, feingliedrige Hand mit einem blauen Halbedelstein am Finger, ein Adlerprofil, ein Lachen, Aicha!
Von ihrem Begleiter, der ihr gegenüber saß, sah er nur einen grauen Haarkranz und die Schultern, die in einem Jeanshemd steckten. Ihr Vater?
»Sag mal, träumst du oder was?«
»Entschuldige.«
»Hier, probier mal den Chateauneuf, der schmeckt prima.«
»Köstlich.«
»Du bringst mich echt auf die Palme, Chib! Man könnte dich für einen Pfarrerssohn halten! Hm … ich wollte sagen … Willst du nichts von dem Naan? Iss, du bist viel zu dünn!«
Chib kaute auf seinem Naan herum und versuchte dabei, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu erhaschen, der an Aichas Tisch aß. Sie schien sich nicht sonderlich zu amüsieren, nickte häufig, schaute nach rechts und nach links, trank Rose in kleinen
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