Schneewittchens Tod
.«
Bebende Stimme am Ende der Leitung: »Oh! Sie wollen sagen … ich werde Jean-Hugues Bescheid geben. Er wird Sie zurückrufen.«
»Sehr gut, ich danke Ihnen. Entschuldigen Sie die Störung.«
»Nein, das macht nichts, das ist doch normal, ich . Bringen Sie sie zurück? Oder müssen wir den Schrein in Ihre Praxis bringen?«
Den Schrein? Wovon sprach sie? Und »Praxis«, als wäre er Arzt! Sie war ja völlig durchgedreht. Er wiederholte dümmlich: »Den Schrein?«
»Den gläsernen Schrein. Mein Mann hat ihn aus Turin kommen lassen, über seinen Cousin, Pater Dubois. Sie werden nur noch dort hergestellt, bei den Zisterziensern von San Michele d'Oro. Kennen Sie die Abtei? Sie ist wunderschön und noch dazu in den Bergen gelegen.«
Nicht mehr zu stoppen, die Gute. Achterb ahn wirkung der Beruhigungsmittel.
»Ah, sehr schön, sehr schön«, stimmte er zu.
Ein Glassarg, der Horror schlechthin! Die Kleine, ausgestellt in der Kapelle wie ein ausgestopfter Hirsch neben einem Christus aus Holz!
»Hugues ist sehr traditionsbewusst, wissen Sie, und wir wollten das Beste für sie.«
»Natürlich, natürlich. Ich werde das alles mit ihm besprechen, wenn er mich anruft.« »Oh, jetzt fällt es mir wieder ein, er ist in Paris! Ja, er hat es mir gestern Abend gesagt. Er hat heute Morgen die Sieben-UhrMaschine genommen und kommt mit dem Flieger um zwanzig Uhr zurück.«
»Kein Problem.«
»Warum kommen Sie nicht hierher mit … Elilou? Das wäre doch einfacher.«
Ja, kommen Sie doch zum Tee mit meiner ausgestopften Familie.
»Nun .«
»Jean-Hugues ist so überlastet . Und ich möchte sie nicht Unbekannten anvertrauen.«
Schniefen. Raschelndes Taschentuch, das die zitternden Nasenflügel abtupfte. Lehne ab! Warte, dass dich ihr Mann am Abend anruft.
»Wie Sie wollen. Ich könnte in einer Stunde, sagen wir anderthalb Stunden, bei Ihnen sein.«
»Gut, dann also bis gleich!«
Künstlich auf munter getrimmter Tonfall, Ergebnis lange trainierter heiterer Höflichkeit.
Und jetzt den Sarg im Kofferraum des Floride dorthin schaffen. Wie ein Grabschänder. Denn normalerweise hätte er Lucas und Michel rufen müssen, weil man Leichen nicht in einem Kabrio herumkutschiert. Aber …
»Du fühlst dich unbehaglich, weil du unrein bist, Chib«, raunte ihm die Stimme von El Ayache zu, als er aus seiner Trainingshose stieg, um seinen dunkelgrauen Anzug anzuziehen.
»Dein Herz ist unrein. Der Körper der Kleinen stößt dich ab, weil dich der ihrer Mutter anzieht. Du bist nicht auf dem Weg. Du beleidigst den Tod. Fang dich wieder! Reinige dich! Bete!«
Keine Lust zu beten, Lust auf ein Bier, Lust auf Sonne, Lust, Gärtner zu sein und Blumen auf den Gräbern wachsen zu lassen.
Er band sich die Krawatte um, schwarzes Leinen mit feinen blauen Streifen, und holte seinen Wagen. Licht überflutete den Boulevard, zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen. Grelles Licht, gemeißelt vom Mistral. Das Meer schien transparent und eisig. Surfbretter glitten über die Wellen, sausende Farbtupfer.
Die Luft roch nach Jod und Algen. Nach Salz, nach trockenem, sauberem Salz.
Er fuhr den Wagen vors Haus, stellte das Warnblinklicht an, um den Sarg zu holen, den er in eine Decke gewickelt hatte.
Als er gerade den Kofferraum öffnete, tippte ihm jemand auf die Schulter. Er fuhr zusammen, hätte beinahe seine Last fallen lassen. Der Chef des Restaurants nebenan musterte ihn lächelnd, seine Pastis-Fahne flatterte im Winde.
»Mein Neffe hat den gleichen!«
Den gleichen was? Den gleichen Holzkasten? Den gleichen Schlips?
»Aber in Grau. Modell Siebenundsechzig. So was kriegt man nicht alle Tage zu sehen! Ich sollte euch mal miteinander bekannt machen. Er ist verrückt nach Oldtimern. Ich persönlich ziehe den modernen Komfort vor. Mein Dreihundertfünfzig SE, astrein. Aber, nun, jeder hat seine Vorlieben, was?«
Chib lächelte höflich, brachte den Sarg im Kofferraum unter und schlug die Klappe energisch zu.
»So ist es«, sagte er, nur um etwas zu antworten. »Jetzt muss ich aber los, bin schon spät dran!«
»Derselbe Tick wie die mit ihren Jeeps«, fuhr der Restaurantchef, an den Laternenpfahl gerichtet, fort. »Ich fände es unbequem, so ein Ding zu fahren …«
Stau. Er kurbelte die Scheibe herunter, atmete den Geruch der blühenden Mimosen ein, die Auspuffgase des Rollers vor ihm.
Wieder anfahren. Über die Schnellstraße. Er stellte sich vor, wie der Sarg im Kofferraum gerüttelt wurde, wie Elilou in den Kurven hin und her rutschte,
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