Schneewittchens Tod
zuckte die Schultern. Die Vorstellung, in das glasklare Wasser einzutauchen, erschien ihm plötzlich unwiderstehlich. Er zog sich aus bis auf den schwarzen Calvin-Klein-Slip - Gott sei Dank hatte er nicht seinen alten Känguruh-Slip an -, kletterte über das Schandeck und tauchte zögernd einen Fuß in die Fluten.
Brrr. Wirklich brrr. Sei's drum. Gelobt sei, was hart macht. Bis zu den Knien. Sehr kalt. Die Schenkel. Gefühl von Schrumpfen im Unterleib. Das Wasser berührte den Slip.
»Er wird noch zum Schoko-Eskimo, der Idiot!«
Auf die Bizepse stützen, um sich ganz langsam hinunterzulassen, kalter Biss in den Bauch, Anspannen der Brustmuskeln, abstoßen und hopp, Schultern, Hals, Kopf untertauchen, ja.
Er kraulte kräftig, um sich vom Boot zu entfernen, genoss das eisige, belebende Prickeln auf der Haut. Etwas streifte seinen Schenkel, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das grauenhafte Bild einer Elisabeth-Louise vor Augen, die wie ein toter Fisch im Wasser trieb, den Mund voller Blasen, die Augen voller Hass, das lange Haar wie zu einer Blütenkrone ausgebreitet. Er drehte sich um die eigene Achse. Ein Bündel weißlicher Algen. Er stieß sie mit dem Fuß zurück, tauchte wieder auf, schüttelte sich. Greg stand schon auf dem Bug in violetten Boxershorts. Kopfsprung, aufspritzendes Wasser, Lachen, Gregs kräftige Muskulatur teilte die Fluten mit perfekten Kraulbewegungen.
Chib zog sich an Bord, griff nach dem Badetuch, das Gaelle ihm reichte. Ein schöner Tag. Ein köstliches Picknick. Angenehme Begleitung. Ein bitterer Geschmack im Mund, den das Salzwasser nicht hatte vertreiben können.
»Hast du Probleme?«
Wieder Gaelle, ein Glas Weißwein in der Hand.
»Ein Problem im Job, nichts Schwerwiegendes.«
»Was machst du beruflich?«
Die Fangfrage.
»Ich bin Taxidermist.«
Sie hob die Brauen.
»Ausstopfer? Eher außergewöhnlich. Was stopfst du aus? Den Hund der alten Omas?«
»Unter anderem. Fische, Wildschweine …«
»Stinkt das nicht zu sehr?«
»Man gewöhnt sich dran. Und du, wie ist's mit der Medizin?«
»Die stinkt nicht schlecht .«
»Ich habe noch nie einen Mediziner präpariert«, meinte er mit nachdenklicher Miene.
Sie lächelte, leerte ihr Glas, bot ihm eines an, das er ablehnte.
Er streckte sich auf einer der Bänke aus, wärmte sich in der Sonne auf. Greg kam wieder an Bord, bespritzte alle. Noch ein Gläschen Weißwein? Also prost! Die Mädchen räumten die Reste des Picknicks wieder ein. Dann Stille, Vorzeichen der Siesta. Greg schmierte Aicha mit Sonnencreme ein. Gaelle las die letzte Elizabeth George. Chib schloss die Augen. Den kurzen Moment der Ruhe genießen.
Das Boot wiegte sich leicht. Greg schlüpfte in seinen Taucheranzug und griff nach seiner Harpune.
»Heute Abend gibt's Tintenfisch!«, verkündete er.
Aufspritzendes Wasser. Leichte Brise. Sanftes Schaukeln. Benommenheit.
»Bist du morgen zur Zeremonie eingeladen?«
Aicha. Als sie an Bord geklettert waren, waren sie zum Du übergegangen.
Chib seufzte.
»Leider.«
»Das wird finster werden … Sie haben zwei Aushilfskräfte für den Empfang engagiert«, fügte sie hinzu.
»Welcher Empfang?«
»Für den Leichenschmaus. Scheint so üblich zu sein - alte französische Tradition …«
Kurzes Bild von einem Ballsaal voller weiß gepuderter, als Marquis verkleideter Vampire, die den Körper der Kleinen verschlingen. Du hast zu viele Filme gesehen, Chib.
»War sie sehr wild, Elisabeth-Louise?«
»Elilou? Nein, sie war eher ruhig, ein Kind, das still in einer Ecke spielt. Warum?«
»Ich habe Spuren von mehreren Brüchen gefunden.«
»Ach so . sie hat oft Pech gehabt, war ein Mädchen, das sich ständig verletzt, weißt du. Ihre Geschwister haben sie deshalb oft aufgezogen.«
Unangenehmer Schauder.
»Und mit ihren Eltern, wie ging das?«
»Na ja, sie war sechs Jahre alt, natürlich ging das. Sie sind streng, aber nett. Außerdem war sie ein braves Kind. Nicht wie dieses Biest von Annabelle.«
»Wer ist das Lieblingskind?«
»Das kann man nicht wissen. Der Vater behandelt alle gleich, ein bisschen wie in der Armee. Und Madame, sie ist oft geistesabwesend. Nur Fassade und dahinter unbewohnt.«
»Nimmt sie Drogen?«
»Du fragst wie ein richtiger Polizist! Nein, sie nimmt keine Drogen. Sie neigt eher zum Alkohol.«
»Und der Priester?«
»Der Cousin? Den kann ich nicht ausstehen! Mit seinem gekünstelten Lächeln und seiner zuckersüßen Stimme - man könnte ihn für einen Schwulen im
Weitere Kostenlose Bücher