Schneewittchens Tod
Medizinerin, aber nicht vollständig überzeugt.«
»Hier die Frucht meiner Arbeit!«
Ein tropfender Greg kam die Leiter hochgeklettert und hielt seine Harpune mit einem winzigen Kalmar daran in die Höhe.
»Ach, der Arme, das ist ja noch ein Baby!«, rief Gaelle, »den wollen wir doch nicht töten!«
»Wirf ihn wieder ins Wasser, bitte!«, bettelte Aicha.
»Spinnt ihr, oder was? Der schmeckt, auf dem Grill geröstet, ganz köstlich.«
»Ist uns egal, den essen wir nicht!«, meinte Aicha energisch. »Wir sind gegen den Genozid der Kraken.«
»Aber das ist doch gar keine Krake, das ist ein verdammter Kalmar! Den isst man wie Hähnchenfleisch!«
Schweigen.
»So ein Quatsch!«, murmelte Greg, zog den kleinen Kalmar von der Stahlspitze und warf ihn ins Wasser zurück. »So, sind jetzt alle zufrieden?«
»Du bist ganz lieb!«, versicherte ihm Aicha und küsste Greg auf die Wange, der daraufhin tatsächlich errötete.
Na, mein Bester, die wird schon mit dir fertig, diagnostizierte Chib und streckte sich mit einem zufriedenen Lächeln wieder auf seiner Bank aus.
Nachdem alle zusammen im Panorama-Restaurant des Sofitel zu Abend gegessen hatten - danke, Greg - und er mit Gaelle bei sich zu Hause ankam, war Chib ziemlich beschwipst. Er hatte zu viel getrunken. Gaelle auch, sie schwankte und kicherte, während sie die ausgestopften Tiere betrachtete. Er hatte nicht geplant, sie mit heimzunehmen, es hatte sich so ergeben, als Greg und Aicha sich verabschiedet hatten, bevor sie in den Jeep stiegen. »Ich würde mir gern dein Atelier ansehen«, hatte sie gesagt, »wenn dich das nicht stört.«
Sie war hübsch, sympathisch, intelligent. Warum nicht? Hatte er ein Keuschheitsgelübde abgelegt? Nein. Lernte er jeden Tag ein hübsches vierundzwanzigjähriges Mädchen kennen, das bereit war, sich ihm an den Hals zu hängen? Nein. Na, dann mal los!
Er bot ihr einen Martini und einen Cognac an.
»Cognac, danke.«
Er schenkte sich auch ein Glas ein. Er war gut, ein Geschenk der Gräfin di Fazio.
Während sie in kleinen Schlucken ihren Cognac trank, legte er eine CD auf. In the Mood For Love.
»Hat dir der Film gefallen?«, fragte Gaelle und schenkte sich nach.
»Sehr. Und dir?«
»Super! Tanzen wir?«
Später, als sie sich im Dunkel seines Schlafzimmers an ihn schmiegte, während er rauchte, fragte sie plötzlich: »Hatte sie blaue Flecken am Rücken?«
»Wie?«
»Die Kleine, ob sie blaue Flecken am Rücken hatte?«
»Ja, warum?« »Das ist oft bei misshandelten Kindern der Fall. Blaue Flecken an Stellen, an denen man sich bei gewöhnlichen Stürzen nicht stößt, gar nicht stoßen kann«, rezitierte sie. »Hast du eine Zigarette für mich?«
Chib reichte ihr seine Marlboro, sein Arm war halb eingeschlafen.
»Was weißt du sonst noch darüber?«
»Eine ganze Menge, aber ich wollte vor den anderen nicht davon sprechen; das ist einfach zu abscheulich. Hast du Zugang zu der Leiche?«
Er dachte einen Augenblick nach.
»Ja, ich glaube schon. Ich könnte einen letzten Besuch vorschützen.«
»Vergewissere dich, ob sie Jungfrau ist«, riet ihm Gaelle eiskalt.
Chib fuhr hoch und hätte ihr beinahe in die Augen gestoßen.
»Was?«
»Glaub mir, vergewissere dich, dann siehst du klarer.«
»Das ist ja ungeheuerlich!«
»Bist du vierundzwanzig oder ich? Wie alt bist du übrigens?«
»Zweiundvierzig.«
»Bah, so alt! Ich hab mich von einem alten Schwarzen aufs Kreuz legen lassen!«
»Ich wurde aufs Kreuz gelegt. Trotz heftiger Gegenwehr!«
»Von der habe ich zwar nichts bemerkt. Aber wenn du's sagst .«
Sie schwiegen einen Augenblick. Der Wind rüttelte an den Fensterläden. Man hörte das Meer, ein gedämpftes gleichmäßiges Rauschen.
»Meinst du wirklich, ich sollte …?«, fragte Chib und drückte seinen Zigarettenstummel in der Bierdose aus, die er als Aschenbecher benutzte.
»Wenn du deinen Seelenfrieden haben willst, dann ja«, meinte Gaelle gähnend. »O weh, ich muss morgen um sechs Uhr aufstehen, meine Kurse beginnen um acht.«
»Am Samstag?«
»Hm. Eine Autopsie.«
»Wir scheinen wirklich für einander geschaffen«, lächelte Chib und schlang die Arme um sie. »Soll ich dir zeigen, wie ich mit meinem Skalpell arbeite?«
»Für heute Abend hast du mich schon genug aufgeschlitzt. Sing mir lieber ein Wiegenlied.«
»Dos gardeniaspara ti Con ellas quiero decir … «
KAPITEL 5
Die Abschiedszeremonie war für siebzehn Uhr vorgesehen. Chib stellte seinen Wagen um 16 Uhr 30 vor dem großen Tor ab. Er
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