Schneewittchens Tod
sich auf die Lippe.
»Mit einer Gartenschere«, antwortete Chib, der keine Lust hatte, nähere Erklärungen abzugeben.
»Mist!«, zischte Louis-Marie. »Tobias war wirklich süß.«
»Clotilde wollte ihn Elilou schenken«, murmelte Charles, der bleich geworden war.
»Es sollte eine Überraschung zu ihrem Geburtstag nächsten Monat sein.«
»Schnauze«, schrie Louis-Marie. »Rede nicht über solche Sachen.«
»Mein armer Loulou, du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall.«
»Schnauze habe ich gesagt!«, brüllte Louis-Marie und schlug Charles seinen Rucksack auf den Kopf.
Charles drehte sich um und versuchte, ihm eine Ohrfeige zu verpassen.
»Keine Prügelei im Auto«, rief Chib. »Außerdem sind wir da.«
Er bremste vor dem Tor. Die beiden Jungen stiegen aus und starrten sich wütend an.
»Salut und danke«, sagte Charles und holte zu einem Tritt aus, dem sein Bruder auswich.
»Salut Charlie, salut Loulou«, rief Chib und fuhr an.
Splitt spritzte gegen den Kotflügel, und Chib bog lächelnd in die Kurve ein. Er war entzückt, die beiden Jungen aufgebracht zu haben.
KAPITEL 13
Es hatte die ganze Nacht geregnet, ein schwerer Regen, quälend wie eine Migräne. Chib hatte seinen Wagen gegen 22 Uhr 30 in der Einfahrt des verlassenen Anwesens abgestellt. Er war im Regen durch den Wald gelaufen, hatte sich im Dornengestrüpp verfangen, war auf den nassen Blättern ausgerutscht und hatte befürchtet, die Hunde der Osmonds könnten anschlagen. Doch nach der Ermordung des kleinen Welpen waren sie sicher im Haus eingesperrt. Der Swimmingpool leuchtete wie eine Laterne für Schiffbrüchige, ein türkisfarbenes Rechteck mit Narben von Regentropfen auf der Oberfläche. Keuchend und bis auf die Haut durchnässt, hatte er sich am Landhaus entlanggeschlichen und jede Sekunde damit gerechnet, auf einen Costa mit Schrotflinte zu treffen oder auf eine Annabelle im Schlafanzug, die sich die Lunge aus dem Hals schrie.
Der Regen prasselte auf die Kapelle, durchnässte den Kies, trommelte auf das Wellblechdach des Geräteschuppens. Er übertönte das Geräusch seiner vorsichtigen Schritte. Er hatte sich an der Regenrinne festgeklammert und zog sich in den ersten Stock hinauf. Das Zimmer, ihr Schlafzimmer, im Dämmerlicht. Das Fenster war angelehnt. Er war hineingeklettert. Wenn sie die Alarmanlage nicht abgeschaltet hatte, würde sie gleich losheulen, und die Wachmänner würden anrufen, hatte er sich gesagt, während er sich durch das Zimmer tastete, in dem es nach Medikamenten roch. Nach Äther. Es roch nach Äther. Schnüffelte sie Äther? Er war an das Ehebett gestoßen und hatte einen Schenkel unter seiner Hand gespürt. Einen nackten Schenkel.
»Du bist kalt«, hatte sie gesagt, »kalt und nass.«
»Es regnet.«
Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt, ihre Stirn und ihre Wangen gestreichelt. Jetzt erst spürte er, wie sehr er fror, er zitterte. Sie hatte ihn plötzlich an sich gezogen, bis er neben ihr lag.
»Hast du die Alarmanlage abgestellt?«
Sie hatte nicht geantwortet, nur den Kopf an seinen Hals geschmiegt.
Dann hatten sie nicht mehr gesprochen.
Es hatte die ganze Nacht geregnet. Im Morgengrauen verschwand Chib in seinen noch unangenehm feuchten Kleidern. Wie ein Dieb war er in das Kabrio geklettert und über die kurvige Straße gefahren. Er hatte keine Lust gehabt, nach Hause zu gehen, und hatte vor einer Nachtbar in der Nähe des Hafens gehalten. Dort hatte er einen Kaffee bestellt und die soeben ausgelieferte Zeitung gelesen. Er hatte in einer Ecke an der großen Scheibe gesessen, um ihn herum der Lärm der Müllwagen und die unaufhörlichen Schreie der Möwen.
Es hatte die ganze Nacht geregnet, als pinkelte der Himmel Blut, als regnete es ohne Ende im Herzen der Finsternis.
Jetzt schien die Sonne von einem Himmel, der seine Wunden rein gewaschen hatte, die Wolken hatten sich zurückgezogen und lagen über den Bergen wie eine dunkle Bleidecke.
Er gähnte. Als er nach Hause kam, schlief er zwei Stunden und wachte dann mit einem klebrigen Geschmack im Mund und schwerem Kopf auf. Die plötzliche, stechende Erkenntnis, dass er eine Beziehung mit Blanche Andrieu hatte, raubte ihm den Atem. Wie war das möglich? Er kannte sie kaum, sie war verheiratet, katholisch, Familienmutter, liebte ihren Mann und hatte soeben ihre Tochter verloren. Wie konnten sie miteinander schlafen? Und warum sie mit ihm?
Er massierte sich die Schläfen und versuchte, Klarheit in seine Gefühle zu bringen. Doch sie blieben ebenso
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