Schneewittchens Tod
dass ich sehr böse bin.«
»Gut, Madame.«
Sie gingen in den Keller, ein großer gekalkter Gewölbekeller, der gut beleuchtet war. An der einen Wand Vorratsregale, an einer anderen aufgestapeltes Brennholz für den Kamin. An der dritten eine aufgeräumte Werkbank und besagter Waffenschrank aus Holz. Hinter der Glasscheibe sah man zwei Karabiner, ein Brno ZK 99 und ein Norinco.22 long rifle, eine hübsche Bernizan, Modell 318, eine Sportpistole Walther GSP. 32 S&W und der leere Platz der Baby Eagle. Die Vitrine stand offen, das Vorhängeschloss war entfernt worden.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Blanche, »Jean-Hugues hat den Schlüssel immer bei sich.«
»Vielleicht hat Papa vergessen abzuschließen«, meinte LouisMarie.
»Das würde mich wundern, Papa vergisst nie etwas«, widersprach Charles bissig.
»Ganz ruhig. Ich glaube, es wäre jetzt das Beste, Annabelle zu fragen«, meinte Blanche und fuhr mit dem Finger über das Glas.
»Sie wird natürlich lügen. Sie lügt doch immer!«, meinte Charles.
»Jetzt reicht's aber! Ihr seid zurzeit wirklich unerträglich!«
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, errötete sie und biss sich auf die Lippe, was bei Chib ein schier unbezwingbares Verlangen auslöste, sie in die Arme zu nehmen und von hier wegzubringen. Dorthin, wo das Gras grüner war, in jenes Wunderland, das nicht existierte.
Aicha kam ihnen entgegen.
»Ich habe sie nicht gefunden, Madame.«
»Wir werden sie schon finden!«, rief Louis-Marie, und die beiden Jungen liefen in entgegengesetzte Richtungen los.
»Wo ist Eunice?«, erkundigte sich Blanche und rieb sich automatisch die Schultern, obwohl es warm war.
»Sie sieht sich das Video an, das Monsieur ihr mitgebracht hat.«
»Aha. Monsieur Moreno und ich werden im Wintergarten Tee trinken.« »Gut, Madame.«
Er folgte ihr, ihr zierlicher Rücken rührte ihn, die schmalen Hüften, die Art, wie sie sich durch das aschblonde Haar fuhr, um eine Strähne hinter das Ohr zu streichen. Er hatte dauernd Lust, sie zu berühren. Sie an sich zu ziehen, ganz so, als würde sie ein bislang ungenutztes Potenzial an Zärtlichkeit in ihm wecken.
Die japanischen Hocker, der Keramiktisch, ein dichter Vorhang aus grünem und schwarzem Bambus, er sagte sich, dass er den Geruch nach feuchter Erde, der ständig in diesem Wintergarten herrschte, nicht mochte.
Sie sah ihn nicht an, strich mit dem Zeigefinger über die glatte Tischplatte. Chib wollte ihr von der DVD erzählen. Doch er blieb ebenso stumm wie sie. Gelähmt. Das Schweigen schien sich unendlich lange hinzuziehen. Er nahm seinen eigenen Atem wahr und kam sich vor wie ein Blasebalg. Er atmete tief ein und hörte sich sagen: »Eigentlich habe ich keine Lust auf Tee.«
Warum hatte er das gesagt? Ebenso banal antwortete sie ihm: »Dann nehmen Sie eben etwas anderes.«
Mit dieser Art von Dialogen würden sie keinen Moliere-Preis gewinnen, dachte er sich und stellte die übereinander geschlagenen Beine nebeneinander, während Blanche die ihren übereinander schlug.
In diesem Augenblick tauchte Charles außer Atem auf.
»Sie ist verschwunden, Maman!«
»Rede keinen Unsinn!«
»Nein, es stimmt. Wir haben überall gesucht! Außer in der Kapelle!«
Blanche biss die Zähne zusammen. Die vertraute Ader, die an ihrer Schläfe pochte. Chib sah sich genötigt aufzustehen.
»Ich werde euch suchen helfen. Sie hat sich bestimmt versteckt, weil sie Angst hat, bestraft zu werden.«
»Annabelle?«, entgegnete Charles, »Die hat keine Angst! Sie ist ein richtiges Biest!«
»Charles«, sagte seine Mutter schwach. »Geht jetzt, ich bleibe hier.«
Der Himmel hatte sich bezogen, dicke graue Wolken breiteten sich rasch über den Hügeln aus und verschlangen das Blau. Es würde bald regnen. Louis-Marie erwartete sie beim Swimmingpool und kaute mit gerunzelter Stirn auf der Innenseite seiner Backe.
»Ich bin bis zum Fluss gelaufen«, sagte er zu seinem Bruder.
»Ich frage mich, wo sie sich wohl versteckt hat.«
Chib zählte laut die verschiedenen Möglichkeiten auf, der Geräteschuppen, der Dachboden, die Waschküche, aber offensichtlich hatten die Jungen überall nachgesehen.
Plötzlich stellte sich Chib vor, wie das Mädchen den mit Gestrüpp bedeckten Abhang hinaufkletterte, der zu den Labarrieres führte. Sie konnte sich durchaus in ihrem Poolhaus verstecken, in dem die bequemen gestreiften Matratzen (für die Liegen) aufbewahrt wurden. Er teilte ihnen seine Hypothese mit, und sie machten sich auf den Weg, die
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