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Schneewittchens Tod

Schneewittchens Tod

Titel: Schneewittchens Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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der völlig durchnässte Louis-Marie herein.
    »Maman!«
    »Ja?«
    »Wir haben nicht im Brunnen nachgesehen!«
    »Welcher Brunnen?«, fragte Chib, der plötzlich eine Gänsehaut bekam.
    Hatten diese Wahnsinnigen einen Brunnen?! Warum nicht auch einen Turm mit einer Folterkammer?
    »Der alte Brunnen in der Nähe des Obstgartens. Normalerweise ist er mit einem Holzbrett abgedeckt, aber es war derart morsch, dass Costa es weggenommen hat, um ein neues hinzulegen.«
    »Wann hat er es weggenommen?«, hauchte Blanche.
    »Gestern Abend. Er wollte heute Nachmittag wiederkommen.«
    »O mein Gott …«
    »Wir gehen hin«, sagte Chib und packte Louis-Marie beim Arm. »Aber wissen Sie, Annabelle ist kein Baby mehr …«
    Bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, war er schon draußen. Das unangenehme Gefühl von kaltem Wasser auf dem Kopf. Louis-Marie zog ihn zum Obstgarten, es war dunkel, in der Ferne ein Donnerschlag. Die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm, sagte sich Chib, als er den Brunnenrand erkannte. Ein Durchmesser von etwa einem Meter. Große, mehr oder weniger lockere Steine. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen beugte sich Chib über den Rand, um ins Innere zu schauen. Man sah nichts. Der Regen lief ihm in den Nacken, über die Wangen, in die Augen, im Inneren des Brunnens war es stockfinster.
    »Hol eine Taschenlampe!«, befahl er Louis-Marie, der zum Haus zurückrannte.
    Er untersuchte wieder den dunklen Schlund. Plötzlich ein Geräusch. Er hob den Kopf, lauschte. Wegen des Regens, der in den Bäumen rauschte, konnte er nicht gut hören. Er beugte sich erneut hinab und legte die hohlen Hände hinter die Ohren, fa, es war eindeutig. Wie ein ääääääää … wie eine menschliche Stimme, sagte er sich ääääääää … wie ein dumpfer, anhaltender Klagelaut. O nein!
    »Hier!«
    Louis-Marie reichte ihm eine Taschenlampe. Er richtete den Lichtkegel auf den Grund.
    Da war sie. Zwei Meter unterhalb von ihnen. Den Kopf nach unten, gehalten von einem Vorsprung, von irgendetwas - einem Nagel vielleicht? -, an dem sich ihr beigefarbenes Wollkleid verhakt hatte. Sie hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Nur das dumpfe Stöhnen zwischen den zusammenge-pressten Lippen. Ääääääää, helft mir, sagte er sich, helft ihr und helft mir, helft uns, verdammt noch mal! Er kletterte auf den Brunnenrand.
    »Ich brauche ein Seil! Schnell!«
    Louis-Marie starrte auf seine Schwester hinab.
    »Der Stoff wird reißen«, flüsterte er.
    »Hol ein Seil, Himmel noch mal!«, brüllte Chib.
    Vielleicht konnte er sich, wenn er vorsichtig war und die Füße in den Mauerritzen abstützte, zu ihr hinunterlassen. Sich hinunterlassen und sie holen, bevor das Kleid endgültig riss. Er stützte den Fuß an einer Unebenheit ab und starrte auf den Stoff. Halt noch ein Weilchen, halt noch ein Weilchen.
    Keuchen über seinem Kopf.
    »Hier!«
    Ein guter Meter nasses Seil schlug ihm ins Gesicht.
    »Binde es gut fest!«, schrie er.
    Ein Blitz erleuchtete den Kopf des über ihn gebeugten Jungen.
    »Ich habe es um den Orangenbaum gebunden«, rief er zurück. »Sie können anfangen!«
    Er legte sich das Seil um die Taille, verknotete es und ließ sich hinab. Louis-Marie hatte die Taschenlampe genommen und leuchtete in den Schacht. Der Regen schlug in das Gesicht der Kleinen, doch sie hielt die Augen fest geschlossen. Er sah, dass sie die geballten Fäuste an ihren Leib presste. Er schluckte, rutschte auf einem nassen Stein ab, hielt sich an dem Seil fest, das sich mit einem heftigen Ruck spannte. Louis-Marie hatte gute Arbeit geleistet. Er seilte sich jetzt schneller ab. »Äääääää.« Der Ton hallte von den runden Wänden wider, dumpf und entfernt wie sein eigenes Echo. Er glaubte, den Riss im Stoff sich vergrößern zu sehen, hier, direkt vor seinen Augen, nein, das war nicht nur ein Eindruck, er sah, wie sich die Maschen weiteten. Er sah den Metallhaken, ein schwärzlicher Haken, der immer deutlicher zu erkennen war - weil, weil sich der Riss vergrößerte, weil der Stoff nachgeben würde und … Sie fiel! Er griff nach unten, ohne zu sehen, wohin, seine Hand schloss sich um eiskaltes Fleisch. Die Wade. Sie glitt ein Stück durch seine Finger, bis er am Knöchel fest zupacken konnte. Er spürte das raue Gewebe eines Söckchens, versuchte, das Mädchen zu sich hochzuziehen, aber sie war zu schwer. Zu schwer, um sie mit einem Arm so zu halten. Tastend suchte er nach dem anderen Knöchel, ergriff ihn.
    »Hab keine Angst, ich

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