Schneewittchens Tod
um und stieß sie heftig auf. Cordier war angekommen, sein Volvo parkte im Hof. Chibs Nacken war feucht.
»Peng!«
Ah! Er war zusammengezuckt. Annabelle, eine große schwarze Spielzeugpistole in der Hand, sah ihn belustigt an.
»Du hast Angst gehabt, was?«
»Warst du vor fünf Minuten in der Kapelle?«
Sofort verschloss sich das Gesicht des Mädchens.
»Das ist keine Kapelle, es ist das Raumschiff der Blauen Hexe.«
»Red keinen Blödsinn«, schimpfte Chib, der keine Lust hatte, sich auf ihr Spiel einzulassen.
»Ich rede keinen Blödsinn, du bist blöd, dreckiger Neger!«
Er blieb mit offenem Mund stehen. Wo konnte sie solche Beleidigungen aufgeschnappt haben, wenn nicht zu Hause? Oder in der Schule? Er beugte sich zu ihr hinab und packte sie beim Handgelenk.
»Glaubst du, was du da sagst, ist besonders nett?«
Sie musterte ihn trotzig.
»Das ist mir egal, ganz egal! Lass mich los, oder ich bringe dich um!«
Sie fuchtelte mit ihrer Plastikpistole unter seiner Nase rum, und er wollte sie gerade anbrüllen, als eine Kleinigkeit seine Aufmerksamkeit erregte. Die Mündung des Laufs war zerkratzt. So, als wäre wirklich daraus geschossen worden, sagte er sich. Bei genauer Betrachtung schien sie schwer, ziemlich schwer und tatsächlich aus Metall. Ja, eigentlich unglaublich echt. Und sie war entsichert. Gab es an Spielzeugen eine Sicherung? Hatte dieses grässliche kleine Monster seinem Vater die Knarre geklaut? Zweifelsohne. Er ließ sie los.
»Du bist schlecht erzogen. Verschwinde!«, sagte er so autoritär wie möglich.
»Du bist schlecht erzogen, ich knalle dich ab«, schrie sie, rot vor Wut.
Wie durch eine Lupe vergrößert, sah er, wie sich der kleine rosige Finger um den Abzug krümmte. Er warf sich auf den Bauch, spürte, wie sich der Kies in seine Wange bohrte, in seinen Mund drang.
Klick.
»Geschieht dir recht«, schrie Annabelle über seinem Kopf.
»Du bist tot!«
Klick. Ein Spielzeug. Klick! Völlig eingestaubt, richtete er sich auf Knie und Hände auf. Gelächter. Er wandte den Kopf.
Am Gitterzaun standen Charles und Louis-Marie und hielten sich vor Lachen die Bäuche.
»Wie nett, dass Sie gekommen sind, um mit Annabelle zu spielen«, meinte Charles belustigt.
Chib erhob sich, wütend und gedemütigt.
»Bleib liegen«, befahl Annabelle, »verstanden?«
»Lass mich in Ruhe!«, brüllte Chib wütend, riss ihr die Pistole aus der Hand und warf sie in ein Hortensienbeet.
Die Detonation verschlug ihm den Atem. Eine bläuliche, von einer Rauchwolke umgebene Blütenkrone flog in die Luft. Die Jungen hatten den Vorgang ungläubig beobachtet. Annabelle hielt sich die Hand vor den Mund und rannte zum Haus. Chib beugte sich über das Beet. Es roch nach Kordit. Er hob die Waffe auf. Sie war in der Tat schwer. Mit zitternden Händen untersuchte er sie. Eine Baby Eagle, Kaliber 9 mm Luger. Kapazität: fünfzehn Schuss. Gewicht etwa ein Kilo. Eine gute Handwaffe.
»Was ist los?«
Blanches ängstliche Stimme.
»Nichts, Maman, ein Unfall!«, antwortete Louis-Marie, ohne Chib und die Pistole aus den Augen zu lassen.
»Ein Unfall?«
»Anscheinend hat Annabelle eine Pistole gefunden«, erklärte Chib und zeigte ihr die noch warme Waffe.
Cordier stand neben Blanche, seine wulstigen Lippen waren zu einer argwöhnischen Grimasse verzogen.
»Was soll denn das nun wieder!«, knurrte er.
»Die gehört Jean-Hugues«, erklärte Blanche mit weit aufgerissenen Augen. »Wie konnte Annabelle … Sie hängt immer in seinem Waffenschrank … im Keller …«
»Beinahe hätte sie Monsieur Moreno getötet!«
Charles' Stimme verriet seine Erregung.
»Das tut mir Leid …«, sagte Blanche zerstreut, den Blick auf das zerfetzte Blumenbeet gerichtet.
»Wenn Sie erlauben, werde ich jetzt gehen«, sagte Cordier und spielte mit seinen Autoschlüsseln, »und ein Rat: Schließen Sie die Waffe weg!«
Die Tasche unter den Arm geklemmt, eilte er zu seinem Wagen. Und erst jetzt wurde Chib bewusst, dass er nur deshalb noch lebte, weil die Baby Eagle aus unerfindlichem Grund Ladehemmung gehabt hatte. Er spürte, wie seine Knie weich wurden, und zwang sich, tief durchzuatmen.
»Sehen wir uns den Waffenschrank an«, hörte er sich entschlossen sagen.
Blanche nickte, und sie gingen, von den Jungen gefolgt, ins Haus.
»Aicha, Annabelle wird bestraft! Sie bekommt Stubenarrest!«
»Gut, Madame. Aber ich habe sie nicht gesehen. Sie hat draußen gespielt .«
»Suchen Sie sie und bringen Sie sie in ihr Zimmer. Sagen sie ihr,
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