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Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Titel: Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lehmacher
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Lippenstift leuchtet selbst bei dem gedämpften Licht in der Wohnung.
    »Gut, dass Sie sind da«, sagt sie in leicht gebrochenem Deutsch. »Bitte …« Sie deutet auf eine Tür am Ende des langen Wohnungsflurs.
    »Ich glaube, heute ist Bademanteltag«, flüstert Felix mir zu, als wir der Dame folgen. Ich nehme die orangefarbenen Wände und die schwarzweißen Fotografien mit erotischen Motiven nur am Rande wahr, dann schweift mein Blick im Vorbeigehen durch eines der Zimmer, dessen Tür offen steht, eine dunkelrote Tapete, ein großes verwühltes Bett, ein Stuhl, eine Kommode. Sonst nichts.
    Hinter uns bringt eine Frau, die sich ein Handtuch umgewickelt hat, jemanden eilig zur Wohnungstür.
    »Glotz nicht so«, zischt mir Felix über seine Schulter hinweg zu.
    Ich glotze doch gar nicht , denke ich.
    Die Wohnung ist extrem aufgeheizt, und erst als ich mir den Schweiß von der Stirn wische, dämmert es mir endlich. »Tagsüber?«, flüstere ich Felix ungläubig zu.
    Felix grinst. »Hast du in deiner Einfalt gedacht, dieses Geschäft läuft nur abends?«, zischt er mir von der Seite her zu.
    Jetzt komme ich mir richtig dämlich vor.
    Die Dame führt uns durch ein Zimmer in eine Art Wintergarten. Auf einer Liege vor uns der Patient, ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann in Unterhose, der laut vor sich hin jammert.
    Dem ersten Anschein nach kann ihm nicht viel fehlen: Er ist bei Bewusstsein, redet, hat eine klare Sprache, gestikuliert beim Reden. Als ich seinen Puls fühle, stelle ich schon vor dem Blutdruckmessen fest, dass er kräftig und regelmäßig ist, ich zähle kurz mit: 76.
    Nach und nach bekommt Felix heraus, dass der Mann versucht hat, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen.
    »Wie viele und welche genau?«, fragt Felix, aber der junge Mann klagt nur weiter, dass es ihm wirklich nicht gut gehe. Ich messe den Blutdruck, fühle noch einmal den Puls, keine besonderen Anzeichen.
    Ein Klingeln an der Wohnungstür, zwei weitere Damen, ebenfalls in Bademäntel gehüllt, führen zwei Polizeibeamte und den Notarzt aus Augsburg, Dr. Framm, mit seinem Sanitäter in den kleinen Raum. Alle drängen sich zum Patienten hin. Ich mache Platz.
    »Meine Güte, das ist ja wie in einer Sauna hier …«, sagt Dr. Framm.
    Eine der Damen bittet mich, zur Seite zu gehen und öffnet ein Schiebefenster hinter mir. Jetzt stehe ich direkt neben dem etwa vierzig Zentimeter breiten Spalt, durch den winterkalte Luft hineinströmt. Ich bin nicht schwindelfrei, blicke aber trotzdem kurz in die Tiefe: verschneite Blumenkästen unter mir und Reihen von Waschbetonplatten, die die Balkone der unteren Stockwerke verkleiden. Dieser Raum war also auch einmal ein Balkon, geistert es mir durch den Kopf. Ein Blick nach unten: schon beim Hinunterschauen ein Gefühl von endlosem Fallen. Rasch trete ich etwas vor und konzentriere mich wieder auf den Patienten und die Umstehenden.
    »Die hier eben …« Der Patient hält dem Notarzt mehrere leere Blisterpackungen entgegen, verschiedene Größen und wohl unterschiedliche Präparate.
    »Sie haben alle genommen, ja?«, fragt Dr. Framm.
    »Ja, Herr Doktor.«
    »Aha«, schmunzelt der Arzt. »Da haben Sie den Mädels die komplette Verhütung für vier Monate weggefuttert. Wie hat’s denn geschmeckt?«
    Der Patient reißt erstaunt die Augen auf.
    »Wie, Verhütung …?« Völlig perplex hat er sein Jammern eingestellt.
    »Und? Gefährlich?«, möchte einer der beiden Polizeibeamten wissen. Diese Frage interessiert mich auch. Einzelne Tabletten sind sicher nicht gefährlich, aber in so großer Menge? Ich zähle die leeren Vertiefungen in den Blisterstreifen: Bis zu 84 Tabletten könnte er theoretisch geschluckt haben.
    »Ja, wirklich sehr gefährlich«, sagt der Arzt trocken. »Fast so schlimm wie der Genuss von Dosenfleisch.«
    Und dann wendet er sich wieder dem Patienten zu. »Es kann sein, dass Sie Kopfschmerzen bekommen. Oder Ihnen schlecht wird und Sie sich übergeben müssen … Aber nun sagen Sie mal, warum Sie das gemacht haben?«
    »Ich? – Wegen Angie«, sagt der Mann und zeigt auf die Dame, die uns die Tür geöffnet hatte.
    »Aha. Verstehe. Liebeskummer?«
    »Ja«, sagt er leise.
    »Was ist das hier überhaupt … für eine Wohnung?«, platzt es auf einmal aus einem der Polizeibeamten heraus. Er schaut dabei Felix an.
    »Also, also da sollten Sie besser die Damen fragen«, stottert dieser.
    Stattdessen fragt der Beamte die drei Bademantelschönheiten jedoch: »Wer ist denn nun der junge Mann

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