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Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Titel: Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lehmacher
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entgegen, bleibe direkt vor ihnen am Gehweg stehen und öffne das Fenster ein Stück weit.
    »Sie kommen wie gerufen«, sagt der Mann. »Da hinten an der Mauer steht einer. Irgendwas stimmt mit dem nicht.«
    »Irgendwas?«, frage ich nach.
    »Ja. Der scheint verwirrt zu sein.«
    »Wo genau steht die Person?«, frage ich, meine dann aber in etwa zwanzig Meter Entfernung eine Silhouette zu erkennen.
    »Da hinten. Ein älterer Herr. Der schimpft wegen der Mauer. Wir wollten ihm helfen, aber …«
    »Danke für den Hinweis, wir kümmern uns darum.« – »Leitstelle von Friedberg 33/64, Thomasstraße, kurz ›außerhalb‹, vermutlich hilflose Person, wir melden uns«, gebe ich an die Leitstelle durch.
    Dann nehme ich das Handsprechfunkgerät und laufe meinem Notarzt hinterher, der schon ein Stück vor mir durch das laubbedeckte Gras stapft. Ein Geruch wie von Pilzen oder von feuchtem, moosigem Waldboden hier – mitten in der Stadt.
    »Sie brauchen uns dann nicht mehr?«, ruft mir der Herr auf dem Fahrrad noch nach.
    »Nein. Aber vielen Dank!«
    Im Dunkeln steht ein älterer Mann mit einer Aktentasche unter dem Arm. Er steht mit dem Gesicht zur Mauer und schimpft leise vor sich hin.
    »Guten Abend«, sagt Dr. Lengenfelder freundlich.
    Der Mann, eher klein und rundlich, zuckt ein wenig zusammen und dreht sich zu uns um.
    »Guten Abend«, begrüßt er uns. »Was kann ich für Sie tun? Ist jemand krank oder verletzt?«
    »Äh, nein«, finde ich als Erster die Worte.
    »Wir wollten nur mal nach Ihnen schauen, ob Ihnen etwas fehlt.«, fügt Dr. Lengenfelder noch hinzu.
    »Nein. Ich bin kerngesund. Jedenfalls für mein Alter.«
    »Aber«, fährt Dr. Lengenfelder fort, »warum stehen Sie um diese Uhrzeit hier?«
    »Ist doch nicht verboten«, entgegnet der Mann. »Und wenn hier nicht jemand alles zugemauert hätte, müsste ich hier auch nicht herumstehen. Das ist doch nicht normal.«
    Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich erkenne das Gesicht des Mannes und seine Brille, die ein wenig von Staub oder Kalk trüb zu sein scheint.
    »Wer hat was zugemauert?«
    »Die eben!«, sagt der Mann mit Nachdruck. »Die haben hier alles zugemauert.«
    »Und was haben die zugemauert?«
    »Na, also bitte.« Der Mann wird ärgerlich. »Ich war heute Abend nur kurz weg, und die haben mir mein ganzes Grundstück zugemauert. Hier …«, sagt der Mann und zeigt auf die Backsteinmauer, die hier wohl schon seit einigen Jahrhunderten steht. »Da …« Er zuckt verständnislos mit den Schultern. »Alles zugemauert!«
    »Sie meinen, die Mauer ist neu?«
    »Ja, natürlich. Sie halten mich wohl für bescheuert, wie?«
    »Nein, natürlich nicht, aber …«
    Der Herr fährt fort: »Da. Hier wohne ich. Da ist mein Haus. Jedenfalls – dahinter!«
    Mein Notarzt versucht es vorsichtig: »Sind Sie sich sicher, dass …«
    »Also hören Sie mal, ich bin doch nicht blöd! Ich weiß doch, wo ich wohne. Hier ist die Kobelgasse 15.«
    »Ich glaube, Sie irren sich«, sage ich.
    »Nein. Ganz sicher irre ich mich nicht. Ich wohne in der Kobelgasse 15. Würde ich mich irren, dann wäre ja alles falsch. Alles! Mein Personalausweis. Meine Geburtsurkunde. Junger Mann: Ich habe schon in diesem Haus gewohnt, bevor Sie zur Welt kamen. Und jetzt bringen Sie mir entweder eine Leiter, damit ich da rüber kann, oder lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin nämlich müde.«
    Der Mann, der sich ein wenig ungelenk bewegt und nicht aussieht, als würde er problemlos eine Leiter hochsteigen können, wendet sich von uns ab.
    »Hier ist aber nicht die Kobelgasse. Hier ist die Thomasstraße.«
    Der ältere Herr dreht sich wieder zu uns um.
    »Hören Sie, Sie gehen mir ehrlich gesagt ziemlich auf die Nerven. Natürlich ist hier die Kobelgasse. Sonst könnte hier ja nicht mein Haus stehen, das die mir zugemauert haben. Das ist eine solche Sauerei!«
    Zumindest ist seine Verwirrung in sich logisch.
    »Gut«, versucht Dr. Lengenfelder es noch einmal, »wie heißen Sie denn?«
    »Gantenbein. Robert Gantenbein. Gantenbein, wie das Buch von Max Frisch.«
    »Und welches Datum haben wir heute?«
    »Den 12. September. Aber diese Frage habe ich satt. Was wollen Sie eigentlich alle von mir?« Er schnaubt kurz, um belehrend hinzuzufügen: »Welchen Tag wir haben, das sollten Sie schon selbst wissen, wenn Sie mit dem Sanka unterwegs sind, finde ich.« Dann ruft er auf einmal: »Sehen Sie, Sie bringen mich schon ganz durcheinander! Wir haben doch schon nach Mitternacht. Also ist es der

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