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Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Titel: Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lehmacher
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dass keine Gewalt erforderlich wird, um ihn irgendwohin zu bringen, wo er gut aufgehoben ist.
    Ich gehe ihnen ein paar Schritte entgegen, um ihnen das Wenige, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe, vorab zu erzählen.
    »Okay, dann schauen wir mal«, sagt schließlich der eine der beiden.
    »Sie sind Herr Gantenbein?«, fragte der andere kurz darauf. Er macht mit seiner kräftigen Statur und dem Vollbart einen groben Eindruck.
    »Ja. Aber das hab ich ja nun schon oft genug gesagt.« Der alte Mann verdreht die Augen hinter seiner Brille. »Und es ist auch immer noch der 13. September.«
    »Aha.«
    »Was heißt hier ›Aha‹? Sie kommen ja wohl wegen der Mauer, oder? Die haben mir hier meine Einfahrt zugemauert. Da!« Er hebt die linke Hand, um auf die Mauer zu zeigen. »Nicht mal mehr rechts, wo der Weg ist, komme ich noch zu meinem Haus. Eine echte Sauerei!«, schimpft er.
    Der Polizeibeamte nickt. »Ja, verstehe.« Vielleicht, um mit dem alten Herrn besser ins Gespräch zu kommen, richtet er seinen Handscheinwerfer auf die Mauer.
    »Na also, Sie sehen ja selbst: Da steht jetzt diese Mauer«, tönt Herr Gantenbein schon wieder.
    »Herr Gantenbein, und wer war das Ihrer Meinung nach?« Der Ton des Polizisten ist alles andere als grob. Und mit dieser Frage hat Herr Gantenbein offenbar nicht gerechnet.
    Der alte Mann überlegt einen Moment: »Na ja, das war der Bürgermeister. Ganz sicher! Natürlich nicht er selbst. Weil ich ihn nicht mehr gewählt habe. Und weil ich ja in der letzten Zeit auch nicht mehr in die Kirche gegangen bin. Und natürlich vor allem wegen meinem gesalzenen Brief, den ich ihm geschickt habe. – Beweisen kann ich es nicht. Aber es ist eigentlich ganz sicher, dass er das hat machen lassen.«
    Der Polizist nickt.
    »Es müssen mehrere gewesen sein. Schauen Sie doch selbst: So eine Mauer kann man nicht als Einzelner in ein paar Stunden hochziehen. Es ist eine unglaubliche Schweinerei.«
    »Herr Gantenbein, dürfen wir denn mal Ihren Ausweis sehen?«
    »Moment.« Der alte Mann öffnet die Aktentasche, die an seinen Füßen lehnt. Einen Moment später hält er seinen Ausweis in der Hand. »Sie werden sehen, alles in Ordnung. Er gilt noch bis April nächsten Jahres, mindestens. So genau weiß ich es jetzt nicht. Aber es steht ja drauf.«
    »Sie bekommen ihn gleich wieder. Mein Kollege macht mal eine Personenabfrage.«
    Es dauert eine Weile, bis der andere Polizist zurückkehrt.
    Herr Gantenbein erklärt uns, dass er früher einmal Lehrer war. Und er erzählt, dass er seit mehr als zehn Jahren Witwer ist und dass er glaubt, dass seine Frau nicht an einer Gehirnblutung gestorben ist, sondern vom Krankenhauskoch vergiftet wurde, und dass er sich seither weigert, in ein Krankenhaus zu gehen. »Obwohl man mich schon einmal dorthin verschleppt hat«, fügt er noch hinzu. »Gegen«, er hebt bedrohlich den Zeigefinger, »meinen erklärten Willen.«
    Der Polizeibeamte, der die Personenabfrage erledigt hat, kommt mit dem Ausweis zurück. »Sie hatten ja vorgestern ihren zweiundneunzigsten Geburtstag.«
    »Ja!« Herr Gantenbein nickt.
    »Na, dann noch ganz herzliche Glückwünsche und alles Gute!«
    »Alles Gute … Alles Gute … Alles Gute?«, wiederholt der alte Mann.
    Ich muss fast lachen: Es klingt wie das Krächzen eines Papageis.
    »Schauen Sie sich doch diese Schweinerei mal an!« Er hält jetzt wieder seine Aktentasche unter dem Arm und dreht sich zur Mauer hin.
    »Herr Gantenbein, ich habe gerade mit Ihrer Tochter telefoniert. Sie wusste gar nicht, dass Sie nicht zu Hause sind …«
    »Ja, weil sie sich auch nie um was kümmert!«
    »Wären Sie denn einverstanden, wenn wir Sie jetzt nach Hause bringen?«
    »Aber Sie sehen doch, dass das nicht geht!«, ruft Herr Gantenbein verzweifelt. Für einen Moment vergisst er, dass sein rechter Arm gelähmt ist, und schlägt sich die rechte Hand auf die Stirn, um nachdrücklich zu zeigen, dass er uns alle für blöd oder zumindest sehr uneinsichtig hält.
    »Ja, das wissen wir ja«, entgegnet der Polizist geduldig. »Aber wissen Sie, wir von der Polizei kennen einen anderen Weg, wir kommen schon bis auf Ihr Grundstück.«
    Herr Gantenbein überlegt einen Moment.
    »Gut«, sagt er. »Aber die Mauer muss trotzdem weg! Spätestens morgen!«
    »Na, dann kommen Sie jetzt erst einmal mit.«
    Die beiden gehen zum Streifenwagen, und der Polizeibeamte mit dem Vollbart hilft ihm sorgsam in das Auto. Sein Kollege steigt auf der Fahrerseite ein.
    »Gute Nacht noch!«,

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