Schneller als der Tod
Augen.
»Was denn?«, sagt Friendly. »Hab ich Sie gekränkt? Darf ich nicht >schwul< sagen? Grämen Sie sich darüber in Ihrer Freizeit. Jetzt wird gearbeitet.« Zur Springerin sagt er: »Musik bitte, Constance.«
Die Springerin geht zu dem Wagen hinüber, auf dem der Ghettoblaster steht, und kurz darauf ertönt der U2-Song über den Tod von Martin Luther King in den frühen Morgenstunden des vierten April. Martin Luther King wurde abends erschossen, selbst nach Dubliner Zeit, aber die U2 Greatest Hits sind etwas, womit man in der Medizin zu leben lernt. Jeder weiße Chirurg über vierzig spielt sie. Man ist schon froh, dass es nicht Coldplay ist.
Der OP-Pfleger und ich breiten ein blaues Papiertuch über Squillante und reißen den Teil heraus, der auf Squillantes Bauch liegt. Dann legen wir selbstklebende antiseptische Folie auf die entblößte Haut. Sie passt sich perfekt an Squillantes Falten an.
Friendly stiefelt unterdessen mit einem Klammergerät umher und heftet das Papiertuch an Squillantes Haut fest. Das Klammern erschreckt einen ziemlich, wenn man es zum ersten Mal sieht. Aber die Verletzungen sind gegenüber den durch die Operation entstehenden minimal, und die Chirurgen der alten Schule schwören darauf. Also schwören auch Leute darauf, die es den Vertretern der alten Schule nachtun möchten.
Als Friendly fertig wird, kommt meine Studentin wieder herein und flüstert: »Die LD50 für Defenestrierung ist vier Etagen, Sir.«
Um es zu wiederholen, »LD« gleich »Letaldosis«, und LD50 ist die für fünfzig von hundert Menschen tödliche Dosis. Defenestrierung heißt, man wird aus dem Fenster geworfen. Die Studentin sagt mir also, wenn man hundert Menschen aus einem Fenster im vierten Stock schmeißt, bleibt die Hälfte von ihnen am Leben.
»Himmel Arsch«, sage ich. Ich habe Skinflick aus einem Fenster im
fünften
Stock geworfen. Wie stehen da die Chancen?
Und warum komme ich nicht mal zur Ruhe? »Was ist die übliche Todesursache?«, sage ich. »Aortenruptur«, sagt der Student.
»Okay.« Die Aorta, unsere größte Arterie, ist im Wesentlichen ein langer, dünner Ballon wie diejenigen, die Pädophile zu Tierfiguren verdrehen.*
(Anscheinend in der Hoffnung, dass das Gummiquietschen die Eltern vertreibt.)
Da sie mit Blut gefüllt ist, leuchtet es ein, dass sie beim Aufprall zerreißt. »Und danach?«, sage ich.
»Kopfverletzungen, dann innere Blutungen durch verletzte Organe«, sagt der Student. »Gute Arbeit«, sage ich.
Mein Mund füllt sich mit Galle, während ich daran denke. Wobei er sich seit meinen letzten vier Moxfan vor einer halben Stunde dauernd mit Galle füllt. Zumindest bin ich wach.
»Die Laborwerte von dem Nadelstich sind noch nicht da, Sir«, sagt die Medizinstudentin.
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sage ich. Ich habe zwar einen pochenden Schmerz im Unterarm, aber Arschmanns Probe ist inzwischen wahrscheinlich längst rausgeworfen worden. Wenn sie überhaupt eingereicht wurde. Zu viele Leute müssten fünf Minuten länger arbeiten, wenn sie überlebt hätte.
»Fangen wir an«, sagt Friendly. Er kickt einen metallenen Tritthocker rechts an Squillante heran und setzt sich drauf. Der assistierende Medizinstudent stößt weiter unten am Körper einen Hocker ran. Ich gehe auf Squillantes linke Seite. Der Instrumentierpfleger sitzt schon auf einem Hocker am Kopfende, mit den Instrumentenkörben auf ihren diversen Auslegern.
»Alles klar«, sagt Friendly. »Der Patient ist PMS. Ich weiß, dass wir ihn deshalb gern als etwas Besonderes behandeln möchten, als wäre er ein Cop und wir führten ein Autorestaurant. Aber wir betreiben kein Autorestaurant. Seien wir also professionell.«
»Was meinen Sie denn mit PMS?«, fragt mein Student.
»Patient mit Schadensersatzklage«, sagt Friendly. »Hat vor neun Jahren mal einen Vergleich erzielt.«*
(Die Leute meinen (und werden von ihren Anwälten oft in der Annahme bestärkt), eine Kunstfehlerklage berge keinerlei Risiko, da es in neun von zehn Fällen zu einer außergerichtlichen Einigung kommt. Aber mit einer Kunstfehlerklage kann man nicht einfach drohen. In den meisten Staaten ist die Verjährungsfrist für Körperverletzung so kurz (in New York zweieinhalb Jahre), dass keine Versicherung Sie ernst nimmt, solange Sie nicht tatsächlich Klage einreichen und sich zu einer eidlichen Aussage bereit erklären. An dem Punkt aber sind Sie fürs Leben gezeichnet, entweder als prozesssüchtiger Querulant, der nur auf
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