Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
Vom Netzwerk:
Interpretation wird von der Emotion bestimmt, die mit dem ersten Eindruck verbunden ist. In einem klassischen psychologischen Experiment, das nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat, präsentierte Solomon Asch seinen Probanden Beschreibungen von zwei Menschen und bat sie, ihre Persönlichkeit zu beurteilen. 2 Was halten Sie von Alan und Ben?
    Alan: intelligent – fleißig – impulsiv – kritisch – eigensinnig – neidisch
Ben: neidisch – eigensinnig – kritisch – impulsiv – fleißig – intelligent
    Wenn Sie wie die meisten von uns sind, haben Sie eine viel günstigere Meinung von Alan als von Ben. Die ersten Merkmale in der Liste verändern die Bedeutung der später auftauchenden Merkmale. Der Eigensinn einer intelligenten Person wird vermutlich als gerechtfertigt beurteilt und ruft vielleicht sogar Respekt hervor, aber Intelligenz bei einer neidischen und eigensinnigen Person macht sie gefährlicher. Der Halo-Effekt ist auch ein Beispiel für unterdrückte Ambiguität: Wie das Substantiv »Bank« ist auch das Adjektiv »eigensinnig« doppeldeutig und wird in einer Weise interpretiert, die in den Kontext passt.
    Es gibt viele Variationen dieses Forschungsthemas. Teilnehmer einer Studie sollten zunächst die ersten drei Adjektive betrachten, die Alan beschreiben; anschließend sollten sie die letzten drei Adjektive betrachten, die, wie ihnen gesagt wurde, eine andere Person charakterisieren sollten. Als sie sich die beiden Personen vorgestellt hatten, wurden die Teilnehmer gefragt, ob es plausibel sei, dass alle sechs Adjektive auf eine Person zutreffen, und die meisten hielten dies für unmöglich! 3
    Die Abfolge, in der wir die Merkmale einer Person zur Kenntnis nehmen, ist oftmals vom Zufall abhängig. Aber die Abfolge ist wichtig, weil der Halo-Effekt die Bedeutung des ersten Eindrucks verstärkt, manchmal so weit, dass nachfolgende Informationen größtenteils unberücksichtigt bleiben. Zu Beginn meiner Laufbahn als Professor zensierte ich Prüfungsaufsätze von Studenten in der üblichen Weise. Ich nahm mir jeweils ein Testheft vor und las sämtliche Aufsätze dieses Studenten direkt nacheinander, wobei ich sie einen nach dem anderen zensierte. Dann berechnete ich die Gesamtnote und ging weiter zum nächsten Studenten. Schließlich fiel mir auf, dass meine Benotungen der Aufsätze in jedem Heft verblüffend einheitlich waren. Mich beschlich der Verdacht,
dass meine Benotung von einem Halo-Effekt beeinflusst wurde und dass die erste Frage, die ich zensierte, sich unverhältnismäßig stark auf die Gesamtnote auswirkte. Der Mechanismus war einfach: Wenn ich den ersten Aufsatz gut benotet hatte, gab ich dem Studenten einen Vertrauensbonus, wenn ich später auf eine vage oder zweideutige Formulierung stieß. Das schien vernünftig zu sein. Ein Student, der einen so guten ersten Aufsatz geschrieben hatte, würde doch im zweiten keinen dummen Fehler machen! Aber meine Vorgehensweise war höchst problematisch. Wenn ein Student zwei Arbeiten geschrieben hatte, von denen eine gut und eine schlecht war, käme ich, je nachdem, welche Arbeit ich zuerst las, zu unterschiedlichen Endnoten. Ich hatte den Studenten gesagt, die beiden Aufsätze zählten gleich, aber das stimmte nicht – der erste wirkte sich viel stärker auf die Endnote aus als der zweite. Das war unannehmbar.
    Ich entschied mich für eine neue Vorgehensweise. Statt die Hefte nacheinander von Anfang bis Ende zu lesen, las und benotete ich zunächst die ersten Aufsätze aller Studenten und nahm mir dann die zweiten vor. Ich schrieb die Punktzahlen jeweils auf die Innenseite der Rückseite, damit ich nicht (nicht einmal unbewusst) voreingenommen wäre, wenn ich den zweiten Aufsatz las. Bald nachdem ich auf die neue Methode umgestellt hatte, machte ich eine befremdliche Entdeckung: Ich vertraute meiner Benotung jetzt viel weniger als früher. Der Grund dafür war, dass ich jetzt häufig ein Unbehagen verspürte, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Wenn ich enttäuscht war über den zweiten Aufsatz eines Studenten und die Rückseite des Heftes aufschlug, um eine schlechte Zensur einzutragen, fiel mir hin und wieder auf, dass ich den ersten Aufsatz dieses Studenten sehr gut bewertet hatte. Mir fiel auch auf, dass ich versucht war, die Diskrepanz zu verringern, indem ich die Note, die ich noch nicht hingeschrieben, änderte, und es fiel mir schwer, der einfachen Regel zu folgen, nie dieser Versuchung nachzugeben. Meine Zensuren für die

Weitere Kostenlose Bücher