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Schnitt: Psychothriller

Schnitt: Psychothriller

Titel: Schnitt: Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Raabe
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versucht, sich einzureden, dass niemand hier ist, der Elektroden an seinen Kopf kleben und den Hebel umlegen wird. Aber sein Körper glaubt ihm nicht, sein Körper hat ein eigenes Gedächtnis.
    Urplötzlich muss er an David denken, an die festen Umarmungen seines kleinen Bruders und an das Gefühl, zugleich lachen und weinen zu müssen. Die Sehnsucht überkommt ihn wie ein Fieberschub, eine Sehnsucht, dass endlich alles gut sein soll, dass das alles damals nicht geschehen ist und dass es nur einen Grund gibt, warum er sich an diese furchtbare Nacht nicht erinnern kann: dass es sie bitte, bitte nie gegeben hat und alles ganz normal ist. Dass er seinen Bruder einfach anrufen kann, wie jeder andere auch, der einen Bruder hat.
    Aber nichts ist normal. Seit fast dreißig Jahren ist nichts mehr normal. Da kann man nicht einfach plötzlich anrufen und sagen: Da bin ich wieder.
    Selbst dann nicht, wenn man sonst niemanden hat, der einem helfen würde.

Kapitel 11
    Berlin – 2. September, 10:05 Uhr
    David Naumann streicht sich die halblangen blonden Haare aus dem Gesicht und betritt widerwillig das Vorzimmer von Dr. Robert Bug, dem Nachrichtendirektor von TV 2, ganz so, als sei es die Schleuse zu einer anderen Welt.
    Â»Du musst kurz warten. Von Braunsfeld ist noch bei ihm«, begrüßt ihn Karla Wiegand. Ihr Blick wandert beiläufig über Davids schlanke Gestalt, seine blaue Jeans, das zerknitterte weiße Hemd, das leger über der Hose hängt, und das dunkelblaue Sakko. »Ein Milchkaffee?«
    David nickt. »Victor von Braunsfeld? Bei Bug? Was macht der denn hier? Der kümmert sich doch sonst nur um die Big Deals.«
    Karla Wiegand setzt eine gewichtige Miene auf und zuckt gleichzeitig mit den Schultern. Das Mahlwerk der Kaffeemaschine röhrt, und die Maschine spuckt Espresso und Milch in eine Tasse. Die Wiegand ist blond und Ende vierzig, also gut zehn Jahre älter als David. Ihr Haaransatz beginnt, bereits grau zu werden, und ihr eigentlich attraktives Gesicht zeigt um die etwas zu tief herabhängenden Mundwinkel deutliche Falten, wie Klammern, die ihre latente Unzufriedenheit rahmen.
    Das gerade relaunchte Senderlogo von TV 2 prangt über ihr wie ein Damoklesschwert, bordeauxrot, die 2 in frischem leuchtendem Orange. David weiß, dass sie vermutlich einen guten Job macht, sonst hätte Bug sie längst ausgetauscht, gegen eine Jüngere. »Weißt du, was er von mir will?«
    Â»Keine Ahnung«, sagt Karla Wiegand. David hat den Eindruck, dass sie seinem Blick ausweicht. Also hat er irgendwas zu nörgeln, denkt David. Na, wenn schon. Es ist nichts Neues, dass Bug seine Kompetenzen überschreitet und in den Unterhaltungsbereich hineingrätscht. Im besten Fall geht es um ein bisschen Cross-Promotion für eine neue Nachrichtensprecherin oder Moderatorin, die in irgendeiner Show vorgestellt werden soll. Fragt sich nur, warum Bug sich dann nicht direkt an Davids Chef wendet, den Leiter der Unterhaltung.
    Â»Ach, übrigens«, sagt die Wiegand leise und reicht David den Milchkaffee, »da war vorhin ein Anruf für dich, ein Herr Schirk, von der Commerzbank …« David nickt betont gleichgültig. Mist. Jetzt telefonieren die mir schon im Sender hinterher. Er spürt, dass ihm eine leichte Röte ins Gesicht steigt, die vermutlich sogar durch die Stoppeln seines hellen Dreitagebarts schimmert.
    In diesem Moment geht die Tür von Bugs Büro auf.
    Â»Danke noch mal«, schnurrt seine dunkle Stimme von irgendwo hinter der Tür. Nur seine Hand ist zu sehen, mit der er eifrig die von Victor von Braunsfeld schüttelt, einem drahtigen Mann über siebzig, mit schlohweißem, aber vollem Haar, der in einem maßgeschneiderten stahlgrauen Anzug steckt.
    Â»Passt schon«, murmelt von Braunsfeld mit sanfter Herablassung. »Ach«, sagt er, »und bevor ich’s vergesse. Carpe Noctem geht in eine neue Folge, am Ersten.«
    Â»Ist notiert«, sagt Bug.
    Carpe Noctem? , denkt David. Auf welchem Sendeplatz läuft das denn? War ihm da irgendwas entgangen?
    Von Braunsfeld nickt Bug zu und passiert mit energischen Schritten Klara Wiegands Schreibtisch. Im Vorübergehen fällt sein Blick auf David. Ihre Blicke verhaken sich, und von Braunsfeld stutzt.
    Â»Kennen wir uns?«, fragt von Braunsfeld und bleibt stehen. Sein weißes, perfekt gescheiteltes Haar leuchtet, seine hellbraunen Augen haben einen durchdringenden

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